Unter der Drachenwand by Arno Geiger

Unter der Drachenwand by Arno Geiger

Autor:Arno Geiger
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2017-01-31T05:00:00+00:00


Der Abschied von Wien

Der Abschied von Wien, zeitlich ja kurz, aber nicht minder dem Gedächtnis eindringlich, die trübere Seite. Er bildete den Nachklang für die ganze Fahrt und begann sich erst allmählich abzuschwächen in dem Maße, in dem wir uns in Budapest einlebten. Wien? Unser aller Geburtsstadt. Wir hatten unsere Flucht so lange hinausgezögert, dass wir davor geschützt waren, gleich Heimweh zu bekommen. In gewisser Weise hatten wir das Heimweh schon gehabt, als wir noch in Wien gewesen waren. Zu Wien gewannen wir bald Abstand, eigentlich schon am zweiten Tag, als wir bei István in der Stáhly utca einzogen. Heute existiert Wien schon fast nicht mehr.

In Istváns Absteige kamen wir völlig erschlagen an, es war, als hätten wir uns mit letzter Kraft an einen Ort gerettet, der zunächst geheimnisvoll und dunkel war, und erst nach mehreren Tagen wurde es hell. / Mein erster Eindruck von der Bude war deprimierend, so klein und ärmlich hatte ich’s mir nicht vorgestellt. Zu István sagte ich natürlich nichts, aber er entschuldigte sich von sich aus, ich winkte ab, ich hätte keine großen Erwartungen gehabt und sei nicht besonders überrascht. Da war er gekränkt. / Wenn man aufs Klo will, platzt einem die Blase, bis es endlich frei wird, das ist schon zum Kotzen. Die Nachbarn sind nett. Ganz am Anfang brachte uns Frau Földényi einmal Kuchen.

In der ersten Nacht schliefen wir zu dritt auf Istváns Couch, einer über dem anderen, so erleichtert waren wir trotz der Enge. In der zweiten Nacht schlief Georgili auf einem aus Kleidung am Fußboden bereiteten Bett. Und so lebten wir uns in dem muffigen Zimmer ein und ließen es uns den Verhältnissen entsprechend gutgehen. / Der Lokus ist insgesamt benutzbar, wenn er endlich frei ist, nur etwas kurz gebaut. Wenn ich mich setze, stoße ich mit dem Kopf gegen die Tür. Meistens ist er sauber.

In Budapest eingetroffen, änderte sich Wallys Zustand rasch. Schon lange hatte ich sie nicht mehr so glücklich gesehen. Es machte ihr eine tiefe Freude, dass wir in Budapest lebten. Leben! Wir durften in die Parks und an die Donau. Sogar den Nebel genossen wir. Wally sagte: »Die Behauptung, dass wir Wien gekannt haben, ist im Grunde nicht aufrechtzuhalten, denn dann wären wir früher weggegangen.« / Ich kaufte ihr bei einer Straßenhändlerin ein Halstuch aus Baumwolle, es gefiel Wally so gut, dass sie sagte, sie habe das Gefühl, es mache aus ihr wieder eine junge Frau. / Unser Glück hatte uns nicht ganz im Stich gelassen. Wally überlegte sich jeden Tag, wie sie Georg oder mir eine Freude machen konnte. Und die Geldfrage würde sich hoffentlich bald klären.

Wir frühstückten um neun, dann gingen wir zwei Stunden spazieren, die viele frische Luft tat uns gut. Auf der Donaupromenade war alles Bedrückende wie weggeweht. Georgili schlug Räder und redete viel. Wir schauten uns die prachtvollen Straßen an. Wie anders als in Wien fand hier das Leben statt. Mit großen Augen bestaunten wir die Brücken! Herrlich! Und die Auslagen der Geschäfte waren großartig dekoriert, und großartige Sachen zu sehen. Aber was sie verlangten, frage nicht.



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