Unsere Namen by Dinaw Mengestu
Autor:Dinaw Mengestu [Mengestu, Dinaw]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fiction, General, Roman
ISBN: 9783036992822
Google: nbxSBAAAQBAJ
Herausgeber: Kein & Aber AG
veröffentlicht: 2015-01-23T00:00:00+00:00
ISAAC
Isaac und ich waren schon fast eingeschlafen auf unseren Stühlen unter dem Baum, als wir endlich wieder ins Haus durften. Die Mädchen und zwei der Wachmänner hatten sich längst in ihre Dienstbotenzimmer zurückgezogen, und die Heuschreckenscheinwerfer waren erloschen, genau wie die restlichen Lichter der Stadt. Zwei Wochen zuvor hatte die Regierung begonnen, nachts die Straßenbeleuchtung abzuschalten, doch mir fiel erst jetzt auf, wie vollkommen die Dunkelheit war. Der Blick von unserem abgeschiedenen Winkel in Richtung Hauptstadt erinnerte mich an eine Geschichte, die mir mein Vater einmal erzählt hatte. Darin ging es um eine Stadt, die jede Nacht verschwand, sobald der letzte Bewohner eingeschlafen war. Mein Vater war ein guter Geschichtenerzähler, wenn auch kein so lebhafter wie meine Onkel und Großväter, die regelrecht schwelgten in ihren Geschichten und sie theatralisch ausschmückten. Verglichen mit ihren Darbietungen, war das Geschichtenerzählen bei meinem Vater eine ernste Angelegenheit, vorgetragen mit ruhiger, gemessener Stimme, die dennoch bei jedem, der ihr lauschte, einen bleibenden Eindruck hinterließ. Die Geschichte mit der Stadt, die jede Nacht verschwand, erzählte er mir, nachdem ich als Kind plötzlich eine irrationale Angst vor der Dunkelheit entwickelt hatte. Ich muss damals zehn oder elf gewesen sein, eigentlich alt genug, um zu wissen, dass man vor so etwas Alltäglichem und Banalem wie dem Ende eines Tages keine Angst haben musste. Über das Alter, in dem man Gutenachtgeschichten erzählt bekam, war ich ebenfalls längst hinaus, aber nach dem unvermittelten Auftreten meiner Panik machte mein Vater eine Ausnahme. In der ersten Nacht erzählte er mir von Ländern, die Tausende Kilometer nördlich lagen und in denen die Sonne manchmal monatelang nicht ganz verschwand. Er hoffte, mich mit dem Wissen zu trösten, dass die Welt nicht einfach unterging, nur weil es in unserem Dorf dunkel wurde.
In der zweiten Nacht erzählte er mir von der Stadt, die jede Nacht verschwand. Er versicherte mir, dass es sie wirklich gegeben habe. »Ich erfinde das nicht für dich. Alles, was ich dir erzähle, entspricht der Wahrheit.« Ich glaubte ihm auf jene intuitive Weise, mit der Kinder die Realität ausblendeten, um in der Fantasie etwas Besseres zu finden. »Jahrhundertelang«, begann mein Vater, »existierte diese Stadt nur, solange jede Nacht mindestens einer ihrer Bewohner von ihr träumte. Zunächst beteiligten sich noch alle Bürger und erhielten jeweils einen Teil der Stadt in ihren Träumen am Leben – einige träumten von ihren Gärten, den Blumen, die sie darin gepflanzt hatten und von denen sie hofften, dass sie im Frühling blühten, von den Zwiebeln, die immer noch nicht reif genug waren, um sie zu essen. Sie träumten vom Haus ihrer Nachbarn, das die meisten für schöner hielten als ihr eigenes, von den Straßen, auf denen sie jeden Tag zur Arbeit gingen, oder, falls sie keine Arbeit hatten, von den Cafés, in denen sie stundenlang saßen und Tee tranken. Es spielte keine Rolle, wovon sie träumten, solange sie nur für sich ein bestimmtes Bild der Stadt erhielten, ein Bild, das sie in vielen Fällen an ihre Kinder weitergaben, die ihr Haus einmal erben oder auf dieselbe Schule gehen oder im selben Büro arbeiten würden wie sie.
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