Ungeduld des Herzens by Stefan Zweig
Autor:Stefan Zweig [Stefan Zweig]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-11-30T23:00:00+00:00
Sonderbar, daß mir gerade in dieser Nacht jenes Buch in die Hand geriet. Ich war im allgemeinen ein schwacher Leser, und auf dem wackligen offenen Regal meiner ärarischen Bude standen einzig die sechs oder acht militärischen Bände wie das Dienstreglement und der Armeeschematismus, die für unsereins das Alpha und Omega sind, neben etwa zwei Dutzend Klassikern, die ich, ohne sie je aufzuschlagen, seit der Kadettenschule in jede Garnison mitschleppte – vielleicht nur, um diesen kahlen fremden Zimmern, in denen ich zu hausen genötigt war, einen Schein und Schatten persönlicher Habe zu geben. Dazwischen lagen noch halbaufgeschnitten ein paar schlechtgedruckte, schlechtgeheftete Bücher herum, die mir auf merkwürdige Weise zugekommen waren. Manchmal erschien nämlich in unserem Kaffeehaus ein kleiner buckliger Hausierer mit sonderbar wehmütigen Triefaugen, der auf unwiderstehlich zudringliche Art Briefpapier, Bleistifte und billige Schundbücher anbot, meist solche, für die er sich in kavalleristischen Kreisen den besten Absatz erhoffte: die sogenannte galante Literatur wie Casanovas Liebesabenteuer, das Decamerone, die Memoiren einer Sängerin oder lustige Garnisonsgeschichten. Aus Mitleid – immer wieder aus Mitleid! – und vielleicht auch, um mich seiner melancholischen Zudringlichkeit zu erwehren, hatte ich ihm nach und nach drei oder vier dieser schmierigen, schlechtgedruckten Hefte abgekauft und sie dann lässig in dem Regal herumliegen lassen.
An jenem Abend aber, müde zugleich und überreizt in den Nerven, unfähig zu schlafen und unfähig auch, etwas Vernünftiges zu denken, suchte ich, um mich abzulenken und schlafmüde zu machen, nach irgendeiner Lektüre. In der Hoffnung, daß die naiven bunten Erzählungen, deren ich mich noch von der Kindheit her verworren erinnerte, die beste narkotische Wirkung üben könnten, griff ich nach dem Band Tausendundeine Nacht. Ich legte mich hin und begann zu lesen in jenem Zustand halber Somnolenz, da man schon zu träge ist, die Seiten umzublättern, und aus Bequemlichkeit eine zufällig nicht aufgeschnittene lieber überschlägt. Ich las die Anfangsgeschichte von Scheherezade und dem König mit matter Aufmerksamkeit und dann weiter und weiter. Aber plötzlich schrak ich auf. Ich war auf das merkwürdige Märchen gestoßen von jenem jungen Mann, der am Wege einen lahmen Greis liegen sieht, und bei diesem einen Worte »gelähmt« zuckte etwas in mir empor wie ein scharfer Schmerz; ein Nerv war von der plötzlichen Assoziation wie von einem Brandstrahl berührt. Der gelähmte Greis ruft in jenem Märchen den jungen Menschen verzweifelt an, er könne nicht gehen und ob er ihn nicht auf seine Schultern aufsitzen lassen wolle und weitertragen. Und der junge Mann hat Mitleid – Mitleid, du Narr, warum hast du Mitleid? dachte ich mir –, er beugt sich wirklich hilfreich nieder und setzt sich den alten Mann huckepack auf den Rücken.
Aber dieser scheinbar hilflose Greis ist ein Djinn, ein böser Geist, ein schurkischer Zauberer, und kaum daß er dem jungen Menschen auf den Schultern sitzt, klemmt er plötzlich seine haarigen nackten Schenkel nervig um die Kehle seines Wohltäters und ist nicht mehr abzuschütteln. Unbarmherzig macht er den Hilfreichen zu seinem Reittier, er peitscht, der Rücksichtslose, der Mitleidlose, den Mitleidigen weiter und weiter, ohne ihm Rast zu gönnen. Und der Unselige muß ihn tragen, wohin jener es heischt, er hat von nun ab keinen eigenen Willen mehr.
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