Unfassbar fuer uns alle by Horst Bosetzky

Unfassbar fuer uns alle by Horst Bosetzky

Autor:Horst Bosetzky [Bosetzky, Horst]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


25. Szene

U-Bahnhof Gesundbrunnen

Ich kam die wahrscheinlich längste Rolltreppe Berlins herunter und fühlte mich wie auf einer Sprungschanze. Es ging an dieser Stelle so tief hinunter, weil schon die S-Bahn in einem Einschnitt unter der Bad- und Brunnenstraße lag und die U-Bahn-Linie 8 noch einmal etliche Meter unter deren Gleisen. Man hatte beim Umsteigen die Chance zu einer kleinen innerstädtischen Wanderung. Zwar gab es einen direkten Verbindungstunnel zwischen S- und U-Bahn, aber der war gesperrt worden, um den Rasern unter den Autofahrern auch an dieser Stelle das Totfahren von Leuten zu ermöglichen. Die Verkehrspolitik des Berliner Senats war halt von sympathischer Konsequenz.

Ich hatte diesen U-Bahnhof schon als Kind gefürchtet. Er war zu niedrig, zu lang und zu unübersichtlich, irgendwie bedrohlich. Vielleicht weil er in einer leichten Kurve lag, wahrscheinlich aber löste die Doppelreihe mennigeroter Pfeiler dieses Unbehagen aus.

Es waren doppelte T-Träger, genieteter Stahl, überaus massig, und hinter, beziehungsweise in ihnen konnte sich ein Mann gut verstecken. Der böse Mann. Fünfzig Jahre lang verfolgte er mich schon auf diesem Bahnhof.

Ich hätte anders fahren sollen. Aber wenn man von Oranienburg kam und nach Neukölln wollte, war das der optimale Weg: hier in Gesundbrunnen umsteigen von der Si in die U8.

Fabricio Longare, Pizzeria «Capo Secco», der Mann im BMW...

Ich hielt mich krampfhaft in der Bahnsteigmitte auf, wo der große Stadtplan angebracht war, und hätte mich am liebsten wie ein Magnet an seiner Glasabdeckung festgesaugt.

Paß auf sie wollen dich hier vor die U-Bahn stoßen!

Schwermer und seine Leute, Black / Woerzke / Wolmir.

War das der Instinkt des alten Hasen oder der Wahn des psychisch Kranken?

Wenn Woerzke wirklich der falsche Waldemar war, dann war ich der einzige, der ihnen das Viele-Millionen-Geschäft noch vermasseln konnte.

Während ich so tat, als studierte ich das Berliner Liniennetz, drehte ich den Kopf immer wieder unauffällig zur Seite, um nach möglichen Tätern Ausschau zu halten. Kandidaten gab es eine ganze Menge. Einsame Wölfe, die sich stets in Deckung hielten.

Der Araber / Türke / Jugoslawe mit der schwarzen Lederjacke...

Nein, der fuhr die Rolltreppe hoch.

Eberswalder Straße, Weberwiese, Attilastraße, Raoul-Wallenberg-Straße... War das eigentlich Berlin? Sie hatten nach der Wende bei U- und S-Bahn so viele Stationsnamen geändert, daß ich meine Zweifel hatte. Wenn das nicht Berlin war, wo war ich dann, wer war ich eigentlich...? Ich kannte dieses fürchterliche Gefühl, mich aufzulösen, schon von früher her. Die Angst zog meine Brust zusammen. Ich hustete und röchelte, um wieder Luft zu bekommen.

Gleich schlagen sie los!

Der mit der Baseballjacke hinten. Breit und bullig wie ein American football-Spieler, die blonden Haare kurz geschoren, Doc Martins-Stiefel.

Die Stationsnamen fielen auseinander und verloren sich in irren Assoziationen.

Hans-A.-Platz... Wer war Hans A.? Wahrscheinlich Hans Apel. Ex-Finanz- und Verteidigungsminister, gescheiterter Bürgermeisterkandidat in Westberlin. Schön, daß sie ihm jetzt einen Bahnhof gewidmet hatten.

Jan-Nowitz-Brücke... Wer war Jan Nowitz? Sicherlich ein Widerstandskämpfer gegen die Nazis.

Alex-Sander-Platz... Wer war Alex Sander? Der Mann von Jil Sander...? Warum aber mußten sie ausgerechnet den...? Connections wieder mal.

Leo-Pold-Platz... Das freute mich, daß sie den geehrt hatten. Aber hieß der Kabarettist nicht eigentlich Gerhard Polt...?

Ich war dicht davor, zum zweitenmal in meinem Leben abzustürzen.



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