Unfall in der Nacht by Patrick Modiano

Unfall in der Nacht by Patrick Modiano

Autor:Patrick Modiano [Modiano, Patrick]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-11-22T16:00:00+00:00


Im Zimmer der Klinik Mirabeau, nach dem Unfall, hatte ich Zeit gehabt zum Nachdenken. Zuerst hatte ich mich an den Hund erinnert, der an einem Nachmittag meiner Kindheit überfahren worden war, dann kam mir ein Ereignis aus derselben Zeit langsam wieder in den Sinn. Ich glaube, bisher hatte ich vermieden, daran zu denken. Nur der Äthergeruch rief es mir hin und wieder ins Gedächtnis, dieser schwarze und weiße Geruch, der einen mit sich zieht bis zu einem Punkt labilen Gleichgewichts zwischen Leben und Tod. Eine kühle Frische und das Gefühl, endlich in freier Luft zu atmen, aber zuweilen auch die Schwere eines Leichentuchs. In der Nacht davor, im Hôtel-Dieu, als der Typ mir einen Maulkorb über das Gesicht gestülpt hatte, damit ich einschlief, da hatte ich mich erinnert, alles schon einmal erlebt zu haben. Die gleiche Nacht, den gleichen Unfall, den gleichen Äthergeruch.

Ich kam aus einer Schule. Der Hof ging auf eine leicht abschüssige, von Bäumen und Häusern gesäumte Chaussee, und ich wußte nicht mehr, ob es Villen, Landhäuser oder Vororthäuschen waren. Meine ganze Kindheit hindurch hatte ich an so vielen verschiedenen Orten gewohnt, daß ich sie schließlich alle miteinander verwechselte. Die Erinnerung an diese Chaussee vermischte sich vielleicht mit der an eine andere in Biarritz oder an eine abschüssige Straße in Jouy-en-Josas. In derselben Zeit hatte ich eine Weile an diesen beiden Orten gelebt, und ich glaube, der Hund war in der Rue du Docteur-Kurzenne, in Jouy-en-Josas, überfahren worden.

An einem späten Nachmittag verließ ich den Klassenraum. Wahrscheinlich war gerade Winter. Es war dunkel. Ich wartete auf dem Trottoir, daß ich abgeholt wurde. Wenig später war niemand mehr in meiner Nähe. Das Schultor war geschlossen. Kein Licht mehr hinter den Fenstern. Den Weg nach Hause kannte ich nicht. Ich wollte über die Straße gehen, aber kaum war ich vom Trottoir getreten, da bremste ein Lieferwagen scharf ab und stieß mich um. Ich war am Knöchel verletzt. Sie haben mich auf die Ladefläche gelegt, unter die Plane. Einer der beiden Männer blieb bei mir. Als der Motor ansprang, stieg eine Frau zu. Ich kannte sie. Ich wohnte mit ihr im selben Haus. Ich sehe ihr Gesicht noch vor mir. Sie war jung, etwa fünfundzwanzig, blondes oder hellbraunes Haar, eine Narbe auf der Wange. Sie hat sich über mich gebeugt und meine Hand genommen. Sie rang nach Atem, als ob sie gelaufen wäre. Sie erklärte dem Mann neben uns, wegen einer Autopanne sei sie zu spät dran. Sie sagte, »daß sie aus Paris komme«. Der Lieferwagen hat vor einem Gartenzaun gehalten. Einer der Männer trug mich, und wir gingen durch den Garten. Sie hielt noch immer meine Hand. Wir sind in das Haus getreten. Ich lag auf einem Bett. Ein Zimmer mit weißen Wänden. Zwei Ordensschwestern haben sich über mich gebeugt, ihre Gesichter von weißen Hauben umrahmt. Sie haben mir den gleichen schwarzen Maulkorb über die Nase gestülpt wie im Hôtel-Dieu. Und bevor ich einschlief, roch ich den weißen und schwarzen Äthergeruch.

*

Als ich an jenem Nachmittag die Klinik verlassen hatte, war ich den Quai hinuntergegangen, Richtung Pont de Grenelle.



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