Umbruch by Gerhard Stadelmaier
Autor:Gerhard Stadelmaier
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783552058125
Herausgeber: Paul Zsolnay Verlag Wien 2016
veröffentlicht: 2016-09-03T00:00:00+00:00
THEATER, TOD UND TEUFEL
Gerade in jenen Jahren aber konnte, musste, nein, bitte, durfte der junge Mann ja auch erleben, und dies hautnah, wie wichtig, wie aufregend, wie die Leute im Land und im Staat bewegend und erschütternd, ja umstürzend das Theater sich ausnehmen konnte, die Kunst, der er sich mit Herz und Haut und Haar kritisch verschrieben hatte. Und wie die ganze Zeitung darauf erregt wartete, zu lesen, was er dazu zu sagen und zu schreiben hatte â oder wie er es in seinem heimatlichen Dialekt ausgedrückt haben würde: »So ischs no au wieder!«, was übersetzt ungefähr heiÃt, dass jedes Ding, also auch das theaterkritische, hie und da seine zwei Seiten habe. Dies aber vor allem dann, wenn es nicht um das reine Theater, sondern um den möglichen Skandal ging, den es auch machen konnte.
Und es drohte ein solcher Skandal: in der gut zweihundert Kilometer entfernt liegenden, zwar vor allem dem Kommerz und dem Kapitalismus, aber auch den darstellenden Künsten geweihten Stadt am groÃen, schönen Fluss, die ein berühmt gewesenes und von dieser Berühmtheit immer noch ein bisschen zehrendes Schauspielhaus alimentierte, dem der ehemalige Feuilletonchef der in dieser Stadt erscheinenden groÃen Staatszeitung nun als Intendant vorstand; er hatte ja auch immer schon so intendanziell und Kulturpolitik machen wollend übers Theater geschrieben, als wolle er es lenken und leiten. Es drohte dort ein Skandal, auf den die ganze Republik starrend wartete. Und der junge Mann wurde von der Redaktionskonferenz und dem Chefredakteur, die ihm den Ausflug in den Garten Eden noch übelgenommen hatten, händeringend dazu verdonnert, an einem ungewöhnlich warmen, schwülen Tag Ende Oktober einen Ausflug in diese Stadt zu unternehmen, sich in einem äuÃerst kargen, billigen Hotel einzuquartieren und über den Skandal im Theater am nächsten Tag nun nicht im Feuilleton, sondern auf der dritten, der groÃen Reportageseite des politischen Ressorts, ausführlich zu berichten.
Als er ankam, dem Zug entstieg und in die herbstlichen Tropentemperaturen der Stadt eintauchte, schien es ihm, als betrete er die Kulissen einer Traumstadt. Neben einem in warmrotem Sandstein hoch hinleuchtenden Dom putzig restaurierte Fachwerk-Dekor-Häuschen auf dem Marktplatz, die dort, bevor die Bomben des Krieges auf ihn gefallen waren, nie gestanden hatten, grün überlaubte Zonen und Plätze, blitzende und blinkende Hochhäuser. Lauter urbane Wegmarken für Flaneure. Eigentlich eine Stadt der gewissenlos oberflächlichen Heiterkeit und des raschen Konsums. Nun aber angesteckt von einem Fieber der Skandalerregung.
Denn an jeder StraÃenecke, jedem Zeitungskiosk, jedem Restauranttisch gab es nichts Wichtigeres, nichts Politischeres, nichts Aufregenderes zu bereden und zu beraunen als: das Theater. Man redete nur über ein einziges Theaterstück, eine einzige Theaterinszenierung. Magistratssitzungen, Kundgebungen aller Parteien, Resolutionen der Kirchen, Demonstrationszüge und sogar Gottesdienste beschäftigten sich ausschlieÃlich damit. Fernsehteams aus aller Welt, sogar aus den Vereinigten Staaten und Israel, hatten sich angekündigt, sämtliche Theaterkritiker sämtlicher deutschsprachiger und einiger europäischer Zeitungen waren angereist. Herausgeber und Chefredakteure griffen ihren Theaterkritikern sogar vor: In Leitartikeln wurden Theaterfiguren diskutiert und Intendanten charakterisiert. Der fürs Kulturelle zuständige Chef der groÃen Staatszeitung zum Beispiel nannte den Schauspielintendanten, der den Skandal ins Rollen gebracht hatte, einen »enthemmten Studienrat«.
Die fürs Theater zuständige Muse Thalia hatte in der Stadt am schönen Fluss höchstes Fieber.
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