Um uns die Toten by Grill Bartholomäus

Autor:Grill, Bartholomäus
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Siedler
veröffentlicht: 2014-03-10T16:00:00+00:00

Gerettet aus dem Müll: Aids-Waisen in der Township Crossroads

Der Tod, ein Fest fürs Leben

Streifzüge im afrikanischen Ahnenreich

I am nearing my end.

I want to sleep till eternity with a smile on my face.

NELSON ROLIHLAHLA MANDELA

Alle drei Jahre suchen die Toten Sakété heim. Seid vorsichtig, sie sind unberechenbar! Sie richten üble Dinge an, und manchmal reißen sie Menschen in ihr Schattenreich hinunter. Wir haben die Warnungen im Kopf, als wir die Provinzstadt im Süden Benins erreichen. Zunächst wirkt sie ziemlich verschlafen, wie paralysiert unter der Tropensonne, aber das ändert sich auf dem Weg ins Zentrum. Dort gleicht Sakété einem Tollhaus, das von unheimlichen Invasoren besetzt wurde. Sie hocken auf Bäumen und Dächern, lauern an Hausecken, springen durch Hinterhöfe, sie jagen schreiende Kinderscharen vor sich her und knattern auf Mopeds durch die Straßen. Sie keckern, knurren und brabbeln, machen obszöne Gesten, prusten grasgrüne Brühe. Manche brüllen, als litten sie die Qualen des Fegefeuers. Wie Perchten, Buschgespenster oder Scharfrichter sehen sie aus. Ihre sackleinenen Gewänder schmücken Katzenfelle, Affenschädel, Schlangenhäute, Fetischpüppchen, blutgetränkte Federn, rostige Schlüssel, kleine Kalebassen mit Zauberelexieren. Niemand kennt sie, keiner weiß, wer sich unter den Kesselhauben verbirgt. Die Lebenden fürchten diese wilden Gestalten. Es sind revenants, Wiedergänger aus dem Jenseits.

Neunzehn Tage lang belagern sie die Stadt, schlechte Zeiten für die Hähne von Sakété. Der Feticheur, der den französischen Fotografen Pascal Maître und mich eingeladen hat, der Zeremonie beizuwohnen, reißt einem Gockel nach dem anderen den Kopf ab und lässt das Blut in eine Lehmkuhle tropfen. Er ist ein Priester des Vodún-Kultes; seine Aufgabe ist es, den Untoten Opfer darzubringen, um sie zu besänftigen. Ein Dutzend Wiedergänger haben sich vor seiner Hütte versammelt; sie drehen grimmige Kreisel, rumpeln gegen die Fenster, deuten auf die Inschrift über dem Türsturz – die Strukturformel für Methylalkohol. Was hat das zu bedeuten? Der Zeremonienmeister lächelt nur sibyllinisch und macht dem nächsten Hahn der Garaus. »Ihr steht jetzt unter dem Schutz der Götter«, sagt er, »euch kann da draußen nichts mehr passieren.«

Am Rande des Vorplatzes peitschen sich junge Burschen mit Gerten wechselseitig die nackten Waden blutig – ein Ritual der Mannbarkeit, vollzogen unter den Augen der Ahnen. Plötzlich rennt ein Wiedergänger mit gesenktem Gehörn auf mich zu und fordert Tribut, bevorzugt Geld, aber auch die Armbanduhr wäre willkommen oder wenigstens ein Kugelschreiber. »Wir sind die Toten von Sakété«, ruft er in recht irdisch klingendem Französisch. »Im Jenseits ist es langweilig. Heute wollen wir plaisir, saufen, fressen, tanzen, Motorrad fahren, Leute schrecken!« Und hin und wieder Erdlinge verdreschen, geizige, korrupte, lasterhafte.

Die Epiphanie der Toten ist ein Akt der sozialen Kontrolle, der mitunter recht gewalttätige Auswüchse annehmen kann. Im bayerischen Voralpenland wurde vor nicht allzu langer Zeit noch ein vergleichbares Brauchtum gepflegt, das Haberfeldtreiben. Auch dabei übten maskierte Gestalten Selbstjustiz an Zeitgenossen, die gegen moralische Regeln verstoßen hatten. Überhaupt fühlte ich mich bei den animistischen Ritualen in Afrika oft an den heimatlichen Katholizismus erinnert. Das Treiben der revenants von Sakété kam mir wie ein tropisches Allerseelen vor, wobei jedoch die Beziehung zwischen den Lebenden und Toten genau umgekehrt war. An Allerseelen, begangen am 2.

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