Ueber Meereshoehe by Francesca Melandri

Ueber Meereshoehe by Francesca Melandri

Autor:Francesca Melandri [Melandri, Francesca]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783641089504
Herausgeber: Blessing Karl Verlag
veröffentlicht: 2012-10-21T22:00:00+00:00


WORTE

Da haben wir es, dachte Maria Caterina, wieder mal Blut. Dieses Mal fand sie es auf der Jacke, andere Male waren es die Schuhe gewesen, sogar die Mütze. Einmal war er auch mit verzerrten Gesichtszügen und nach Urin stinkend nach Hause gekommen. Wieder ein anderes Mal mit Spuren von Erbrochenem auf dem Leder seiner Uniformstiefel, und sie hatte genau gewusst, dass es nicht von ihm stammte.

Aber er, kein Wort.

Die ersten Male hatte sie ihn noch gefragt: Was ist passiert, mein Gott, du hast dich verletzt … Doch Pierfrancesco hatte ihr einen Blick zugeworfen, der sie an Rocco erinnerte, den Hund ihrer Kindheit, einen Tag bevor er starb. Der alte Schäferhund war viele Jahre vor ihr zur Welt gekommen, und wenn Maria Caterina aus der Schule kam, war er immer an ihr hochgesprungen und hatte ihr das Gesicht geleckt. An jenem Tag war er nicht am Tor erschienen. Nach ihm rufend und pfeifend war sie den ganzen Gartenweg entlang zum Haus gelaufen, wo sie ihn schließlich sah. Er lag reglos vor der Tür, die Hinterbeine unter dem dicken Gesäß mit dem zerzausten Fell versteckt, die Schnauze mühsam ein wenig angehoben. Nur die Schwanzspitze wedelte schwach über den Boden – ein trauriges Lächeln auf Hundeart. So sah er sie an, mit einem Blick, der nicht um Hilfe bat, was vielleicht noch erträglicher gewesen wäre, sondern um Verzeihung.

Auf eben diese Weise hatte auch, anstatt ihr zu antworten, Pierfrancesco sie angesehen.

Und am liebsten hätte sie, so wie damals bei Rocco, seinen Kopf zwischen die Hände genommen und an ihre Brust gelegt und zu ihm gesagt: ›Sei unbesorgt, es wird alles gut.‹ Doch das konnte sie jetzt nicht mehr, weil sie mittlerweile wusste, dass es nicht stimmte, dass nicht immer alles gut wurde. Auch Rocco war am Tag darauf von ihrem Großvater in den Lieferwagen geladen worden, und sie hatte ihren Hund nie wieder gesehen.

Anfangs, als sie auf die Insel gekommen waren, war Maria Caterina noch voller Vorfreude gewesen. Man hatte ihr die kleine Grundschule für den Nachwuchs des Gefängnispersonals anvertraut, ein Dutzend Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Ihre Vorgängerin war zu alt gewesen und zu erschöpft, um noch für Disziplin in der Klasse zu sorgen, und als Maria Caterina bei dem niedrigen weißen Gebäude eintraf, saßen die Schüler auf dem jahrhundertealten Feigenbaum, der vor der Schule wuchs. Alle hockten sie dort, klammerten sich an den Ästen fest, die Jüngeren weiter unten, die Ältesten ganz oben in der Krone. Ihre Botschaft war klar: Sie hatten keine Angst, weder vor ihr noch vor sonst irgendjemandem.

Doch von diesem Empfang ließ sich Maria Caterina nicht beeindrucken. Sie, die Tochter einer Bauernfamilie, hatte sich die ganze Kindheit über die Beine beim Klettern und Schleichen auf Bäumen und durch Gräben aufgescheuert, und zwischen ihr und dem ältesten ihrer neuen Schüler lagen nicht einmal sieben Jahre Altersunterschied. Mit der linken Hand hielt sie sich am Stamm fest und schwang das rechte Bein in die Höhe, stemmte sich hinauf und hockte sich rittlings auf einen der unteren Äste. Sie war schlank und gut gebaut, aber nicht groß: Ihre Füße reichten nicht bis zum Erdboden.



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