Tumult by Enzensberger Hans Magnus
Autor:Enzensberger, Hans Magnus [Enzensberger, Hans Magnus]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Literatur, Gegenwartsliteratur, Belletristik, Biografien & Erinnerungen
ISBN: 9783518424643
Google: Ib78nwEACAAJ
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2014-11-08T05:00:00+00:00
Der letzte Gangster
Ich warte am Fenster
Die toten Schnapsschlepper von Chicago um meine Knöchel versammelt
Ich bin der letzte Gangster, endlich in Sicherheit
Ich warte am kugelsicheren Fenster.
Ich schaue auf die Straße hinunter und erkenne
Meine zwei Henker aus St. Louis wieder
Wie alt sie geworden sind …
Verrostet in ihren gichtigen Fingern sind die Pistolen.
Damals war er achtunddreißig, aber mit seiner Troglodytenstirn und seinen glühenden Augen sah er viel älter aus, wie sein letzter Gangster.
Und was war die nächste Sequenz in deinem privaten Kino?
San Diego.
Erklär mir, was du dort wolltest.
Diese Millionenstadt der Rüstungsmogule, der Surfer und der Marines ist zwar ziemlich reizlos, aber ausgerechnet hier, an der University of California, hatte sich Herbert Marcuse, ein Veteran des New Yorker Instituts für Sozialforschung und des Geheimdienstes OSS aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, 1964 als Professor der Politikwissenschaft niedergelassen. Wir kannten uns natürlich aus Berlin, wo er ebenfalls lehrte und wo seine Auftritte sensationell erfolgreich verliefen. Auch Reinhard Lettau, ein Freund, mit dem ich mich nie geduzt habe, hatte eine Dozentur in San Diego angenommen, und zwar in einem Fach, in dem er sich gut auskannte, der Germanistik.
Wir saßen am Swimmingpool, tranken einen Sundowner und stritten uns über den »Eindimensionalen Menschen«, den der Philosoph einst erfunden hatte. (Gemeint war vermutlich ein plattgedrückter Mensch; der wäre allerdings zweidimensional gewesen. Geometrie war nicht die Stärke des Philosophen.)
Beide engagierten sich heftig im Aufbegehren gegen den Krieg in Vietnam. Lettaus Pflichten als Lehrer haben darunter kaum gelitten. Er erzählte mir, daß er seinen Studenten seit Jahr und Tag nur zwei Werke der deutschen Literatur nahebrachte. Die mußten sie nicht nur in Übersetzungen, sondern im Original lesen: den Heinrich von Ofterdingen und die Erzählungen Kafkas. Wie habe ich mich über die Widersprüche dieser beiden gefreut, über ihren Ernst ebenso wie über ihre Grillen!
Dann weiter nach Papeete, der Hauptstadt von Französisch-Polynesien. Über dem Amtssitz des Präfekten wehte die Trikolore. Tahiti war Frankreichs Vorposten im Pazifik. Auf dem Flughafen wurden Touristengruppen aus Japan und den USA ausgeladen. Weil ich nicht in die wartenden Busse einsteigen wollte, mußte ich mit einem illegalen Taxifahrer verhandeln, um dem Gedränge zu entkommen. Der Chauffeur, ein stämmiger Polynesier, der nur gebrochen Französisch sprach, brachte mich auf Umwegen zu einem heruntergekommenen kolonialen Holzhaus am Ende einer Palmenallee. Über dem Strohdach ging ein Wolkenbruch nieder.
In meiner Erinnerung fährt die Kamera auf eine offene Veranda zu. Man hört, wie der Regen auf das Dach trommelt. Acht muskulöse Indios, die auf wackligen Stühlen rauchen, dösen schweigend vor sich hin. Sie können weder lesen noch schreiben, und sie begreifen nicht, wie sie nach Tahiti geraten sind. Ein korrekt gekleideter Herr mit melancholischem Gesichtsausdruck, der mich höflich begrüßt, erklärt mir, daß sie auf Gelder, Papiere, Zusicherungen und auf ein Flugzeug warten, das sie nach Paris bringen soll. Ich stelle mich dem Herrn vor, und er überreicht mir seine Visitenkarte. Er heißt Salvador Allende und ist Senator. Außerhalb Chiles hat kaum jemand von ihm gehört. Seine Schützlinge sind die letzten Überlebenden von Che Guevaras bolivianischer Expedition. Am andern Morgen bringt er mich in die Hauptstadt zurück, wo er telephonieren muß, und ich setze meinen Blindflug nach Westen fort.
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