Tu dir weh by Ilaria Palomba

Tu dir weh by Ilaria Palomba

Autor:Ilaria Palomba [Palomba, Ilaria]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Contemporary
Herausgeber: Aufbau
veröffentlicht: 2013-03-22T23:00:00+00:00


DIE KATZE

»Findest du es normal, um diese Zeit zurückzukommen? Wo warst du die ganze Nacht?«

»Ich hab’ dir doch gesagt, dass es später werden würde.«

»Setz die Sonnenbrille ab, ich will deine Augen sehen.«

»Und wenn nicht?«

Stellas Mutter kommt auf sie zu und reißt ihr die Brille vom Kopf. Anstelle von Pupillen hat ihre Tochter zwei schwarze Löcher.

So, und jetzt schau mir in die Augen, sieh richtig hin, du alte Hexe.

»Was hast du genommen?«

»Nichts.«

»Wenn du dich weiter mit diesen beschissenen Leuten triffst, wirst du in der Gosse landen.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Aus dem anderen Zimmer schreit eine männliche Stimme:

»Wenn ich noch einen Schrei höre, komm ich rüber, und dann könnt ihr beide was erleben!«

Stellas Mutter legt den Zeigefinger auf die Lippen.

Selbstverständlich, den großen Chef darf niemand stören.

Stella nutzt den Augenblick der Unaufmerksamkeit, um sich ihre Sonnenbrille zu schnappen und sich im Zimmer einzuschließen.

»Stella! Wo willst du hin?«

Wollen wir wetten, dass ich trotz des Trips lernen kann? Jedenfalls besser als mit dir zu diskutieren, du neurotische, scheißbürgerliche Kuh.

Das Mädchen nimmt das Buch von Sartre, zieht sich aus und schlüpft ins Bett, das aufgeschlagene Buch in der Hand. »Die Faktizität des Für-sich« lautet die Überschrift.

Die wütenden Schreie ihrer Mutter prallen gegen die Scheiben der Zimmertür, dann verebben sie ganz. Nach nicht einmal fünf Minuten schläft Stella ein, das Buch in der Hand.

Es ist ein traumloser Schlaf.

Als sie aufwacht und sich aufrichtet, fällt das Buch auf den Boden. Plumps. Dann Stille. Im ganzen Haus herrscht Grabesstille. Und es riecht nach Frittierfett. Allein der Gedanke an Essen dreht ihr den Magen um. Noch immer steckt ihr der bittere Geschmack des Ketamins im Hals. Es gibt keinen Platz für Essen in ihrem Körper, heute nicht.

Sie steht auf, die Farben erscheinen ihr noch immer grell. Die Poster an ihren Wänden leuchten abwechselnd auf, Jim Morrisons Augen wirken lebhafter, die Pupillen drehen sich links und rechts herum wie unter Hypnose.

Sie hebt das Buch auf und beschließt zu lernen.

Vielleicht verstehe ich mit den Acid-Halluzinationen endlich dieses Scheißbuch.

»Das Sein hat seine Möglichkeit außerhalb seiner, im bloßen Blick, der seine Seinschancen abschätzt.«

Ein grauer Spalt öffnet sich in der Decke. Sartre steigt mit seiner runden Brille und der Pfeife heraus, bläst den Rauch aus und sagt: »Deshalb sind alle Menschen Spiegel und alle Frauen Katzen.« Er hat die Stimme des Professors, danach kehrt er in den Spalt zurück, der sich schließt wie ein Reißverschluss.

Auf einmal scheint Stella alles ganz klar. Die Worte haben Form und Farbe, besitzen in ihrem Verstand ein Gewicht. Sie materialisieren sich. Wenn alle Menschen Spiegel sind, denkt sie, ärgern wir uns über die Menschen, die uns hässlicher erscheinen lassen, und vergöttern die, die uns schöner erscheinen lassen, weil wir Katzen sind.

Wenn es so gut funktioniert, werde ich jedes Mal zum Lernen einen Trip einwerfen.

Gerade als sie drauf und dran ist, sich dem Kern des Problems zu nähern, beginnt ihr Handy zu vibrieren und den Song People are strange zu spielen. Stella schaut auf den Namen auf dem Display.

Scheiße: da ist er, der Spiegel des Bösen.

Gegensätzliche Gefühle. Sie weiß nicht, ob sie rangehen soll oder nicht.



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