Treibjagd durch Unterfranken by Greubel Rainer

Treibjagd durch Unterfranken by Greubel Rainer

Autor:Greubel, Rainer [Greubel, Rainer]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-01-14T05:00:00+00:00


Kapitel 21

Renate Kühn-Ast arbeitete gerne im Labor. Sie arbeitete überhaupt gerne. Schließlich lebte sie wie die meisten GL-Mitglieder solo. Es machte ihr also nichts aus, wenn sich Laborversuche bis in die Nachtstunden oder über ein ganzes Wochenende hinzogen. Im Gegenteil, sie genoß geradezu die Tätigkeit inmitten der labortechnischen Apparaturen und schöpfte ihre Befriedigung aus den Resultaten ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Als Gesamtleiterin des Agrarsektors der GL mußte sie darüber hinaus oft genug Büroarbeiten erledigen, die ihr zwar nicht zuwider waren, aber auch nicht ihre Begeisterung fanden. Solche stundenlangen administrativen Schreibtischarbeiten gehörten allerdings ebenso zu ihren umfangreichen Aufgaben, wie die sich manches Mal ewig hinziehenden Besprechungen mit den Leitern anderer Sektoren. Da saßen mit am Konferenztisch: Oberboss Georg Brandauer, Bernhard Hansen als Leiter der GL-Klinik, Mareille Heinrich-Tobler als Leiterin des Tiersektors und Nikolaus Stumpf als Leiter des Kaufhauses an der Autobahnausfahrt Gollhofen. Vor allem Nikolaus Stumpf ging ihr schrecklich auf den Geist. Seine plüschig-supersofte Art widerte sie an, seine meist weinerlich vorgetragenen Jammersprüche, sein verweichlicht-schwules Gebaren, sein schwammiger Händedruck, seine tuntenhaften Bewegungen und – am allerschlimmsten – seine von überbordendem Selbstmitleid schwimmende Pastoralstimme mit dem allgegenwärtigen Weltuntergangspathos. Der 41jährige befand sich in einer Lebenskrise, als er die GL für sich entdeckte. Renate meinte, diese Lebenskrise dauere anscheinend seit seiner Kindheit durchgängig an. Wohl trieben ihn seine eher wachsartige Körperlichkeit und seine hochentwickelte Defensivhaltung in die Betten skrupelloser, meist akademischer, männlicher Liebhaber. Eine Affäre mit einem kirchlich hochengagierten Funktionär, der sich zusätzlich noch als Psychotherapeut verstand, spülte ihn in die Leitung eines Würzburger Zweite-Hand-Marktes mit mehr oder weniger brauchbaren Möbeln, Kleidern und Geschirr aus Wohnungsauflösungen. Als eines Tages Geld in der Kasse fehlte und Kontrollaufzeichnungen ebenfalls verschwunden waren, packte der Verfolgungswahn den Labilen, der sich in seine Dachzimmerwohnung in der Sanderau flüchtete und sich aus Angst vor der Polizei, dem Gefängnis, dem Bischof und allem und jedem tot stellte. In diesem Zustand war Nikolaus Stumpf zur leichten Beute der Missionare der GL geworden. Aufgrund seiner bedingungslosen Folgsamkeit und seiner Erfahrung im Umgang mit biederen Kunden positionierte man ihn als Leiter des Einkaufslandes.

Dieser Typ kam Renate Kühn-Ast in den Sinn, als sie im Labor durch die Scheibe eines Wärmeschrankes schaute und den Pilzkulturen beim Brüten zusah. Das pflanzentechnische Labor war ebenso wie das tiertechnische Labor im Kellergeschoß der GL-Klinik in Baldersheim untergebracht. Auch diese Abteilung verfügte über die allerbeste Geräteausstattung, um die sie so manches Universitätsinstitut beneidet hätte.

Renate Kühn-Ast wußte dies zu schätzen. Trotz ihrer erst 28 Jahre hatte sie vielfältig Lebenserfahrung gesammelt. Ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie vierzehn war. Der Vater blieb in Ochsenfurt wohnen, gemeinsam mit der Mutter zog sie nach Würzburg; die Entfremdung vom Vater verlief schnell. Sie trat schon als Oberschülerin in eine ökologisch ausgerichtete Partei ein. Nach dem Abitur lernte sie in einem werbegraphischen Betrieb auf dem Würzburger Heuchelhof das Herstellen von Druckvorlagen. Anfang zwanzig heiratete sie einen Tiefbauingenieur aus Goßmannsdorf, der in den langen Wochen der Arbeit auf ostdeutschen Baustellen seine Treue in den Sand des Straßenunterbaus setzte. Trennung und Scheidung sowie ein Umzug nach Hannover in die Nähe einer neuen Arbeitsstätte folgten.



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