Traumakinder by Jens-Michael Wüstel
Autor:Jens-Michael Wüstel [Wüstel, Jens-Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2017-01-15T16:00:00+00:00
ICH BIN DOCH SONST NICHTS WERT – DER LEISTUNGSZWANG
Es ist, als würde eine Stimme im Theater mir zuflüstern: »Mach weiter. Das geht noch besser. War das alles?« Für mich ist das echt surreal. Ich bin der Schauspieler in meinem Lebensstück, und ein unbekannter Souffleur gibt den Text an. Ich habe den Eindruck, diese Stimme war schon immer da. Mein ganzes Leben lang.
Ich bin jetzt fast fünfzig. Habe so viel erreicht. Aber da ist keine Spur von Gelassenheit in mir. Kein Vertrauen darauf, dass es auch weiterhin gut läuft. Keine friedvolle Rückschau auf das Erreichte. Hinter allen Zielen tauchen immer neue Ziele auf. Ich muss immer weiter. In der Firma bin ich nie dabei, wenn ein Vertragsabschluss bei einem Glas Sekt gefeiert wird. Da brüte ich schon über neuen Projekten. Warum kann ich nicht innehalten? Dankbar auf das blicken, was da ist?
Volker, Jahrgang 1963, kam mit einer zunehmenden Unruhe zu mir. Wir arbeiteten schnell heraus, dass diese Unruhe »schon immer da« war. Es »drängte mich immer vorwärts«, wie er sagte, und in jüngeren Jahren hatte er dies durchaus positiv erlebt. Immerhin hatte er durch diese Unruhe »viel erreicht«. Sie trieb ihn an zu Höchstleistungen. Der Klient empfand sie aber jetzt, mit fortschreitendem Alter, als belastend. Es schien ein Punkt erreicht, an dem er sich offenbar Gelassenheit, Vertrauen und friedvolle Rückschau wünschte. Er hatte jedoch den Eindruck, »gar nicht abschalten und runterfahren zu können«.
Vielen von uns geht es wie Volker. Vielleicht kennen Sie auch einen ewigen Leistungsdruck in sich? Oder Sie spüren ihn bei anderen Menschen? Dieses Empfinden, dass es noch besser geht? Dieses »Immer weiter, immer weiter!«, für das etwa der frühere Nationaltorwart Oliver Kahn steht. Ein »War das schon alles?« als immerwährende Frage? Was Volker in sich fühlt – jene Stimme –, nennen Psychologen ein Introjekt. Da ist ein Anteil, den wir quasi von außen nach innen übernommen haben. Etwas Fremdes, das doch ein Teil von uns wurde.
Die Psychologin Luise Reddemann entwickelte das Konzept der »inneren Bühne«, das Volker in seiner Beschreibung – ohne es zu kennen – sehr gut beschreibt. In uns treten verschiedene Aspekte der Persönlichkeit auf. Mal sind wir Partner, mal Geschäftsfrau. Mal Mutter, mal Freundin. Diese Anteile sind völlig normal. Wir brauchen sie. Durch solche vorgefertigten Rollen sind wir in der Lage, schnell zu reagieren. Stellen Sie sich vor, Ihr Chef käme zu Ihnen, um etwas zu besprechen. Und Sie? Brauchen erst fünf Minuten, um zu überlegen, wer das ist, warum Sie dort sind, welche Vorteile und Nachteile das Angestelltendasein hat usw. Nein, wir brauchen Reaktionsmuster, die uns in solchen Situationen als Vorlagen für unser Denken und Handeln dienen. Wenn der Chef kommt, dann sind wir in der Rolle »Angestellter«, nicht in der Rolle »Hobbykoch«.
Aber es können sich auch völlig fremde Schauspieler auf unsere Bühne schleichen. Ihre Rollen passen nicht zu den Anforderungen der Umgebung – und sie können quasi übermächtig werden. Dann bekommen solche Anteile plötzlich Krankheitswert: Unsere Rede im Meeting gerät ins Stocken, weil wir uns plötzlich als »kleine Versagerin« fühlen. Im Kontakt mit Kollegen werden wir überheblich, weil wir den »weisen Alten« zum Besten geben.
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