Trauma und Traumafolgestörungen (Beck'sche Reihe) by Andreas Maercker
Autor:Andreas Maercker [Maercker, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Musterthema
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-09-14T22:00:00+00:00
4.1 Das Traumathema zwischen Übertreibung und Ausgrenzung
In den ersten Kapiteln dieses Buches wurde der Traumabegriff so definiert, dass er immer dann im wissenschaftlichen Sinn zutrifft, wenn ein ganz bestimmtes psychisches Reaktionsmuster vorhanden ist: lebhafte Wiedererinnerungen, Vermeidung und anhaltendes Bedrohungsgefühl. Nicht das äußere Geschehen bestimmt demnach die Traumafolgestörungen, sondern ob kurz- oder langfristig das Gedächtnis und die Bewusstseinsfunktionen geschädigt werden. Der Begriff Trauma allein sollte deshalb eingeschränkter benutzt werden. Für das Schreckliche und Schockierende, das manche Menschen erleben müssen, eignet sich eher der Begriff der Gewalt, der sowohl die zwischenmenschliche als auch die Naturgewalt sowie eine Gewaltwirkung von Katastrophen umfasst.
Diese definitorischen Erläuterungen werden an dieser Stelle noch einmal wiederholt, um die Ausgangsposition für eine seit den 1990er Jahren bestehende Kontroverse deutlich zu machen. Es geht um die Frage, ob der Traumabegriff womöglich überflüssig ist, im gesellschaftlichen Diskurs sogar Schaden anrichtet und inflationär gebraucht wird. Dieser gravierende Verdacht wurde von Vertretern ganz verschiedener Wissenschaftsdisziplinen erhoben, aber auch von Insidern der Psychiatrie, der Sozialversicherungssysteme und des internationalen öffentlichen Gesundheitswesens. Diejenigen, die den Traumabegriff für angemessen halten, argumentieren, dass die Öffentlichkeit, die Politik und die Wissenschaften das ganze Ausmaß der Traumafolgen für Individuen, aber auch für ganze Gesellschaften noch gar nicht absehen und wir als Gesellschaft erst langsam zu realisieren beginnen, wie Gewalt und Traumafolgen die Menschen und die Menschheit beeinflussen.
Im Folgenden wird eine mittlere Position eingenommen. Das Argument ist, dass die demokratischen und säkularen Grundwerte unserer entwickelten Gesellschaften die stärkere Berücksichtigung von Trauma und Gewalt unbedingt erfordern; dass es andererseits aber zu einer Inflation des Traumabegriffs gekommen ist, die ungerechtfertigterweise wichtige frühere differenzierte Einsichten und Kenntnisse ignoriert und mit scheinbar einfachen Lösungen überdeckt und den Begriff dadurch beschädigt.
Zunächst soll hier die kritische Position erläutert werden. Einige Psychiater und insbesondere Gerichtspsychiater haben immer wieder bestritten, dass es überhaupt so etwas wie PTBS gibt, denn ihre Annahme widerspreche der allgemeinen psychiatrischen Krankheitslehre, die keinerlei herausgehobene äußere Ursache für Erkrankungen kennt. Die «verursacherneutrale» Krankheitslehre hatte sich in Abgrenzung zur klassischen Psychoanalyse Sigmund Freuds herausgebildet, in der bestimmte frühkindliche Konflikte als Ursachen späterer Störungen angesehen wurden. In einem 2008 erschienenen, prominent in einer führenden Fachzeitschrift publizierten Beitrag von Gerald M. Rosen und Kollegen werden verschiedene Argumente gegen die Existenz der PTBS vorgetragen: Man könne stattdessen besser eine Depression, Angststörung oder andere psychische Krankheiten diagnostizieren; die Definition eines «traumatischen Geschehens» sei inzwischen völlig überdehnt, so dass alle Arten frustrierender Ereignisse unter dem Traumabegriff versammelt würden. Der wichtigste Beweggrund, eine PTBS zu diagnostizieren, bestehe in der heutigen Praxis vorwiegend darin, eine finanzielle Entschädigung für das vermeintliche Gewalterlebnis zu erhalten. Als Beispiel werden US-amerikanische Soldaten genannt, von denen nach den jüngst geführten Kriegen (Afghanistan und Irak) 45% eine Entschädigung verlangen, während diese Rate bei den Kriegen zuvor nur bei 14% lag. In den meisten Fällen hatten sie dabei angegeben, an einer PTBS zu leiden. Zur Begründung ziehen die Kritiker die Entschädigungs- und Frühberentungsbegehren anderer Opfergruppen heran, von Verkehrsunfallopfern über Betroffene sexueller Gewalt bis hin zu traumatisierten Flüchtlingen. Immer wieder kommt es in solchen Fällen zum Verdacht einer Leistungserschleichung durch Simulation
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