Totenliste by Gilbers Harald
Autor:Gilbers, Harald [Gilbers, Harald]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Krimi
Herausgeber: Knaur
veröffentlicht: 2018-09-02T22:00:00+00:00
21
Samstag, 21. Dezember 1946
Oppenheimer war noch nicht einmal richtig wach, als ihm bereits dieser eine Satz durch den Kopf ging.
Ich habe es nicht gewollt.
Billhardt war gestern Abend sternhagelvoll gewesen, sodass es fahrlässig gewesen wäre, ihn in diesem Zustand nach Hause zu schicken. Also hatte Oppenheimer seinen schwankenden Kollegen unter gehörigem Kraftaufwand zur Villa bugsiert, damit er in der Küche seinen Rausch ausschlafen konnte. Falls einer der übrigen Mieter dagegen protestiert hätte, hätte er erklärt, dass eine weitere Person auch mehr Wärme in den Raum bringen würde, doch niemand war auf die Idee gekommen zu widersprechen.
Eine von Billhardts Angewohnheiten war es, unter Alkoholeinfluss redselig zu werden. Noch in Hildes Wohnzimmer hatte er begonnen, eine Art Beichte abzulegen. Seine bittere Feststellung, dass die Nationalsozialisten ihm die Menschlichkeit geraubt hätten, war noch gut zu verstehen gewesen. Doch schlieÃlich war das ganze Elend aus Billhardt hervorgebrochen, ohne dass sein vom Alkohol benebelter Verstand in der Lage gewesen wäre, die Gedanken verständlich zu formulieren. Auf dem Weg zur Villa gab er nur noch unartikulierte Laute von sich. Aber diesen einen Satz hatte Oppenheimer mit ein wenig Fantasie noch verstanden, denn Billhardt wiederholte ihn immer und immer wieder.
Ich habe es nicht gewollt.
Oppenheimer wusste, dass sein Kollege an der Ostfront Schuld auf sich geladen hatte. Vor zweieinhalb Jahren hatte Billhardt ihm in einer düsteren Stunde bei einer Flasche Wein alles gebeichtet. Oppenheimer spürte deswegen immer noch eine gewisse Beklemmung. Er war stets davon ausgegangen, Billhardt zu kennen, tatsächlich schien es jedoch Abgründe in dessen Seele zu geben, von denen nicht einmal Oppenheimer etwas ahnte. Vielleicht konnte man niemanden wirklich genau kennen. Und vielleicht war es in manchen Fällen auch besser, wenn man nicht allzu genau Bescheid wusste. Oppenheimer mochten Billhardts ÃuÃerungen zwar beschäftigen, doch er hütete sich davor, genau nachzufragen.
Mit diesen trüben Gedanken starrte Oppenheimer zur Zimmerdecke. Mittlerweile war er wach, doch es bedurfte einer gehörigen Willensanstrengung, die Decken zur Seite zu schlagen und sich der Kälte auszusetzen. Neben ihm wälzte sich Lisa hin und her. Auch sie war bereits wach und zögerte das Unvermeidliche hinaus.
Plötzlich glaubte Oppenheimer, ein lang gezogenes Wehklagen zu hören.
Augenblicklich richtete er sich auf. Ein rascher Blick durch den Raum, und er ahnte, wer da gestöhnt hatte. Von dem Ehepaar Vogt fehlte jede Spur.
Um nicht allzu besorgt zu klingen, fragte Oppenheimer schroff: »Was ist denn da los?«
Die übrigen Mitbewohner rafften verschreckt ihre Decken um sich zusammen. Selbst Billhardt war von dem ungewohnten Lärm erwacht.
Oppenheimer stapfte entschlossen die Treppe hinauf. Das Geheule kam aus dem ersten Stockwerk. Vor dem mit Eis verkrusteten Fenster sah er im Gegenlicht die Konturen von zwei zusammengekauerten Menschen. Wieder setzten die fremden und doch unheilvoll vertrauten Geräusche ein.
Bei der einen Person handelte es sich um Frau Vogt. Ein heftiger Gefühlsausbruch schüttelte ihren Körper. Der Mund war weit aufgerissen. Jedes Mal, wenn sie ausatmete, erklang ein lang gezogenes Stöhnen. Sie umschlang mit ihren Armen eine starre Gestalt mit Stahlhelm.
Dieser Anblick bestätigte Oppenheimers Befürchtung. Herr Vogt hatte seine endgültig letzte Patrouillenrunde durch das Haus absolviert. Rastlos, wie er war, musste er in der Nacht aufgestanden sein, um sich unbeobachtet aus der beheizten Küche zu stehlen.
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