Tokio by Mo Hayder
Autor:Mo Hayder [Hayder, Mo]
Format: epub
Tags: Thriller
Herausgeber: Goldman
veröffentlicht: 2010-05-27T21:05:27.375000+00:00
29
Nanking, 18. Dezember 1937, acht Uhr
abends (der sechzehnte Tag des elften Monats)
Endlich kann ich schreiben. Endlich habe ich mich etwas beruhigt. Ich bin über einen Tag lang von zu Hause fort gewesen. Als ich mich am späten Nachmittag entschieden hatte, das Haus zu verlassen, konnte mich nichts aufhalten. Ich heftete mir die Flüchtlingsbescheinigung an die Jacke und schlüpfte hinaus in die Gasse, angelockt von dem Geruch. Es war das erste Mal, dass ich mich seit dem dreizehnten am helllichten Tag drauÃen aufhielt. Die Luft war kalt, der Schnee schwer. Ich bewegte mich lautlos, benutzte schmale Gässchen und kletterte über Pforten, um zu Lius Haus zu gelangen. Die Vordertür stand offen, und er saà im Eingang, beinahe so, als hätte er sich nicht von der Stelle gerührt seit meinem letzten Besuch. Er rauchte Pfeife, und sein Blick war abwesend.
»Liu Runde«, begann ich, als ich eintrat, »können Sie es riechen? Können Sie den Geruch von Gebratenem riechen?«
Er beugte sich vor, reckte seine Nase in die Luft und sah gedankenverloren gen Himmel.
»Es könnten die Lebensmittel sein, die sie uns gestohlen haben«, sagte ich. »Vielleicht haben sie die Frechheit, sie zu kochen.«
»Vielleicht.«
»Ich mache mich auf die Suche. Ich werde das Viertel durchstreifen. Shujin muss etwas essen.«
»Sind Sie sicher? Was ist mit den Japanern?«
Ich antwortete nicht, erinnerte mich etwas peinlich berührt an sein Beharren darauf, dass wir hier sicher sein würden; dachte an das Vorbild, das wir anderen hatten sein wollen. Wir verfielen in Schweigen, bis ich schlieÃlich auf meine Flüchtlingsbescheinigung tippte. »Haben Sie denn keine - haben Sie denn keine von diesen, mein Freund?«
Er zuckte mit den Achseln, legte seine Pfeife weg und stand auf. »Warten Sie hier«, sagte er. »Ich hole sie.«
Er sprach im Flüsterton mit seiner Frau. Ich konnte von ihr nur einen blassblauen seidenen Ãrmel sehen, der immer wieder in der offenen Tür auftauchte, wenn sie ihre Hand hob, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen. Kurz daraufkam Liu wieder zu mir heraus, schloss sorgfältig die Tür hinter sich und spähte in die Gasse. Er hatte sich seine Bescheinigung an die Jacke geheftet und wirkte angespannt und müde. »Ich hätte niemals gedacht, dass es so weit kommt«, flüsterte er und schlug seinen Kragen hoch, um sich gegen die Kälte zu schützen. »So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Manchmal frage ich mich, wer in meiner Ehe der Närrische ist ...«
Wir schlichen ans Ende der Gasse und spähten auf die verlassene StraÃe hinaus. Nichts rührte sich. Nicht einmal ein Hund war zu sehen, nur Reihen von verbarrikadierten, ruÃgeschwärzten Häusern und ein einsamer Handkarren, der umgekippt an der Fassade eines Hauses lehnte. Kleine Feuer brannten, und in Richtung des Flusses war der Himmel rot von Flammen. Ich streckte schnüffelnd meine Nase in die Luft. Jener unglaublich verlockende Geruch schien stärker zu werden. Beinahe so, als würden wir jeden Moment das Brutzeln und Zischen von bratendem Fleisch aus einem der Häuser hören können.
Wir schlichen wie zwei ausgehungerte Katzen die StraÃe entlang, hielten uns in den Schatten, huschten von Hauseingang zu Hauseingang, arbeiteten uns langsam auf das ZhongyangTor im Norden vor, in die Richtung, in welche die Diebe gelaufen waren.
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