Tod unterm Tannenbaum by Weitbrecht Gudrun

Tod unterm Tannenbaum by Weitbrecht Gudrun

Autor:Weitbrecht, Gudrun [Weitbrecht, Gudrun]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783806227390
Herausgeber: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
veröffentlicht: 2015-11-08T16:00:00+00:00


BETTINA HELLWIG

Weggewichtelt

„Du hast meine Milch vergessen“, sagte er, als ich die beiden Stufen von der Küchentür zur Terrasse hinunterging, und versperrte mir den Weg.

Der Dezembernebel umhüllte die Bäume und Büsche im Garten mit einem sanften Grau. Heute war er auch am Mittag noch so dicht, dass ich die Wasserfläche des Bodensees kaum erkennen konnte, geschweige denn die dahinterliegende Alpenkette. Er schien sogar die Schreie der Möwen zu dämpfen. Aus dem Winterhimmel lösten sich ein paar Schneeflöckchen. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch und sog die kalte Luft ein. Selbst für den üblichen modrigen Geruch nach Seeufer war es heute zu kalt. Ich stellte das braune Eimerchen mit den kompostierbaren Abfällen in den Schnee und sah Heidenei an.

Ich bin 83, und dieses Alter hat neben zahlreichen körperlichen Nachteilen den Vorteil, dass man sich einige Absonderlichkeiten leisten kann. Eine davon ist mein persönlicher Kobold, der mich durchs Leben geleitet und den außer mir niemand sehen kann. Er gehört zur Familie der schwäbischen Erdwichtel und nennt sich selbst „Heidenei“, vermutlich weil manche seiner Aktionen vonseiten der Menschen mit dem Ausruf „heidenei“ kommentiert werden. Heidenei ist etwas kleiner als ich, so einen Meter und 50, und hat schwarzbraunes, lockiges Haar, das von silbrigen Strähnen durchzogen ist.

An diesem Adventssonntag trug er den braunen Pullover mit dem bunten Norwegermuster, den ich ihm gestrickt hatte, allerdings wohl mehr mir zu Gefallen als wegen der Kälte, denn Wichtel wie er sind Geistwesen und frieren eigentlich nicht. Erdwichtel erhalten in vielen schwäbischen Regionen Opfergaben, zum Beispiel Weihnachtsgebäck. Andere Menschen schenken ihnen als Dank für ihre Hilfe Kleidung, ein Obergewand oder auch „Häs“, wie es im Alemannischen heißt. Heidenei hatte im Laufe der Jahrhunderte eine seltsame Mischung solcher Kleidungsstücke angesammelt. Seine verwaschene, viel zu weite, rote Samthose, die er mit einem dicken Strick in der Hüfte zusammenband, hatte er vor 200 Jahren von einem Adeligen auf Schloss Montfort erhalten.

Über seine Knubbelnase hinweg sahen mich leuchtend blaue Augen an.

„Meine Milch“, insistierte er, „die steht mir zu. Schließlich ist bald Weihnachten.“

Als Geistwesen muss er sich natürlich nicht ernähren. Die Energie aus der menschlichen Nahrung benötigen er und seine Artgenossen, um sich in unserer Welt materialisieren zu können, was oft segensreiche, manchmal aber auch nachteilige Effekte für uns Menschen hat.

Ungeduldig hüpfte Heidenei mit bloßen Füßen im Schnee auf und ab. Ich fand, dass er für eine Erscheinung, die durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum zustande kommt, ziemlich viele Geräusche machte.

Geistererscheinungen sind ein Phänomen, für das es zahlreiche Erklärungsversuche gibt. So lassen sich mit mathematischen Formeln mehrdimensionale Räume berechnen, die weit über unsere dreidimensionale Vorstellungskraft hinausgehen. Aber auch exakte Berechnungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie lediglich dazu dienen sollen, etwas zu verstehen, was der menschliche Geist nicht erfassen kann.

Ich bin sicher, dass es Parallelwelten gibt, von denen wir gelegentlich einen winzigen Ausschnitt zu sehen bekommen. Besonders häufig passiert dies in der Gegend rund um den Bodensee, die schon seit Jahrtausenden von Menschen besiedelt wird. Vor allem in den Raunächten im Dezember und Januar scheinen sich die Welten zu berühren, sodass Elfen, Kobolde und andere Geister sich materialisieren können.



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