Tennenbaum, Silvia by von gestern Strassen

Tennenbaum, Silvia by von gestern Strassen

Autor:von gestern Strassen
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-04-29T17:57:33+00:00


EMMA KEHRTE MIT VIELEN AMÜSANTEN GESCHICHTEN über Bernard Berenson und Mabel Hennessy Supino-Botti aus Florenz zurück. Lene hatte sie schon lange nicht mehr so angeregt gesehen. Die zwei Schwestern schwatzten bis spät in die Nacht. Lene wollte Paul erwähnen, seinen Namen zwanglos in die Unterhaltung einflechten und sagen: »Ich treffe ihn in Berlin«, aber es bot sich keine Gelegenheit dazu, und sie brachte die Worte nicht heraus – fürchtete sie, daß Emma gegen sie sein würde?

Emma stellte Lene keine Fragen über ihre Pläne. Sie war zufrieden mit der Erklärung, die Lene ihr gegeben hatte, und glücklich bei der Aussicht, Clara zu betreuen. Sie liebte das dicke kleine Mädchen abgöttisch und war überraschend geduldig mit ihr. Sie war insgeheim der Ansicht, daß sie dem Kind eine weit bessere Mutter sein könnte als Lene, denn Lenes Interessen wandten sich leicht anderen Dingen zu – Männer waren ihr wichtiger als Kinder.

Die Eisenbahnfahrt nach Berlin verlief ereignislos. Lene hatte ein Buch mitgenommen, aber sie blickte fast die ganze Zeit aus dem Fenster und träumte von dem Wochenende, das vor ihr lag. Paul hatte ihr den Namen seines Hotels genannt und ihr gesagt, sie solle ein Taxi dorthin nehmen. Sie glaubte nicht, daß er sie überraschen würde, indem er selbst zum Bahnhof kam, aber sie sah sich trotzdem nach ihm um und fühlte einen Stich der Enttäuschung, als er nicht da war. Sie machte sogar einen kurzen Abstecher ins Restaurant, für den Fall, daß er vielleicht auf ein Glas Bier dort hineingegangen war. Ihr wurde bewußt, daß sie ihn sich nicht auf einem Bahnsteig vorstellen konnte, wohl aber mit seinem Notizbuch und einem Glas Bier am blank polierten Tisch eines Restaurants. Aber auch dort war er nicht.

Schließlich gab Lene ihre Suche auf und stieg in ein Taxi. Das leise Gefühl der Enttäuschung verschwand, sobald sie sich inmitten der geschäftigen, lärmenden Stadt befand. Sie war seit Jahren nicht in Berlin gewesen und hatte vergessen, wie anders es war als Frankfurt, wieviel weltstädtischer, voll von verschiedenartigen Gesichtern, pulsierend vom Lärm der Autos und Straßenbahnen und den Rufen von Straßenverkäufern, die in Dialekten aller Art sprachen, frech, melodisch, fluchend und lachend.

Die Begegnung mit Paul gehörte in diese Stadt. Lene konnte sich nicht vorstellen, ihn irgendwo auf dem Land zu treffen, konnte sich nicht vorstellen, ihn zwischen den Birken des Waldes oder in einem altmodischen Hotel an der See zu lieben. Paul gehörte in diese große, lebendige Stadt, und sie würde sich hier mit ihm verlieren. Vielleicht war es nur für eine kurze Zeit – sie erkannte, daß es nicht von Dauer sein konnte –, aber es würde intensiv und unvergeßlich sein. Sie gab dem Taxifahrer ein unerhörtes Trinkgeld und war versucht, ihm zu sagen, warum. Aber vielleicht wußte er es ohnedies, denn er lächelte ihr verständnisvoll zu.

Sie hatte nur einen sehr kleinen Handkoffer mitgebracht. Sie trug ihre Perlenkette und um den Kopf einen dünnen Seidenschal. Die Sommersprossen auf ihrem Gesicht stachen hervor und ließen sie, selbst in der dezenten, eleganten Kleidung einer wohlerzogenen jungen Dame aus Frankfurt am Main, jung und kräftig wie ein Bauernmädchen erscheinen.



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