Tage zwischen gestern und heute by Flotow Andreas von

Tage zwischen gestern und heute by Flotow Andreas von

Autor:Flotow, Andreas von [Flotow, Andreas von]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-15T04:00:00+00:00


20 ICH DENKE AN DIE BÜCHER meiner Kindheit, an das Vorlesen. Wir sind damit auf den Kern meiner geistigen Entwicklung gestoßen.

Die Bücher, die ich meiner Mutter vorgelesen habe, als ich im Krankenhaus neben ihrem Bett saß, nehmen in meiner Erinnerung den größten Raum ein. Ich glaubte, meiner Mutter einen lebenswichtigen Dienst zu tun, indem ich ihr die Bücher meines Vaters vorlas. Mit großer Konzentration widmete ich mich dieser Aufgabe.

Die Bemerkung meiner Großmutter, wonach ich, wenn ich alt genug sei, meiner Mutter Gesellschaft leisten solle, damit sie schneller wieder auf die Beine komme, ließ mich über die Frage nachdenken, womit ich denn ihre Genesung beschleunigen könnte. Wie konnte ich ihr helfen? Was brauchte meine Mutter zum Leben? Diese Fragerei führte zu nichts. Ich ging von einer anderen Seite an die Sache heran, fragte mich, was mein Vater wohl gemacht hätte. Schlagartig war mir klar: Ich musste meiner Mutter so schnell wie möglich das Lesen beibringen.

Da sie keine Reaktion zeigte, las ich ihr vor. Ich war plötzlich überzeugt davon, dass ich ihr dadurch helfen konnte, und hinterfragte mein Vorgehen niemals. Tatsächlich war ich derjenige, der lesen lernte, meine Mutter hörte zu; mit Engelsgeduld, muss man sagen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, ernsthafte Schwierigkeiten beim Lesen gehabt zu haben. Was ich nicht verstand, machte mich neugierig. Überall war von etwas Unbekanntem die Rede, das mich direkt zu betreffen schien. Ich las von offenbar wichtigen Vorgängen der Geschichte, von Schriftstellern, Verbrechern, Filmemachern, Politikern. Ich las meiner Mutter auch aus Modezeitschriften vor, aber das tat ich nur Helen zuliebe.

Am liebsten würde ich hier jedes einzelne Buch meines Vaters mit einem Satz erwähnen, wenigstens etwas darüber sagen. Nicht unbedingt über den Inhalt, eher über ein paar wiederkehrende Gedanken, über das Gefühl, das diese Bücher in mir wecken, wenn ich mir nur die Titel in Erinnerung rufe. Aber ich schweige lieber. Über die wichtigsten Sachen lässt sich am wenigsten sagen.

Abends, nach der Schule, kam ich nach Hause, leerte meinen Schulrucksack aus, füllte ihn mit Büchern aus meinem Vorrat wieder auf und ging zu meiner Mutter ins Nolitan Memorial Nursing Home gegenüber unserer Wohnung. Das ging jahrelang so. Es gab eine Sache, auf die ich mich verlassen wollte: Meine Mutter würde daliegen und auf mich warten.

Ich nahm die Bücher aus dem Rucksack, begann zu lesen. Wenn ich bei ihr saß, erzählte ich ihr auch von meinen Erlebnissen; zum Beispiel davon, dass ich bei True Value Hardware in der Bleecker Street gewesen war, dort für sechzehn Regalmeter weiße Wandschienen abgeholt, eine Bohrmaschine, Schrauben und Dübel gekauft hatte. Das Regal würde ich an der Wand nach Süden anbringen, in meinem Zimmer. Vor dem Fenster stand ein Platanenpaar auf dem Bürgersteig, daneben eine Straßenlaterne, es war also im Sommer wegen des Blätterdachs tagsüber dunkel, nachts relativ hell wegen der Straßenbeleuchtung. Im Winter war es immer hell. Der Besitzer des Cafés, sagte ich zu meiner Mutter, würde morgen vierzig Löcher in die Wand bohren. Ich würde die Metallschienen an der Wand befestigen, die Winkel einstecken, die Regalbretter auflegen, dann die Bücher in mein neues Regal stellen.



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