Strout, Elizabeth by Das Leben natuerlich

Strout, Elizabeth by Das Leben natuerlich

Autor:Das Leben natuerlich
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


DRITTES BUCH

1

Den Großteil von Zacharys neunzehn Jahren hatte Susan es gemacht wie alle Eltern, deren Kind sich so völlig anders entwickelt, als sie es sich vorgestellt haben – sich eingeredet, mit der ganzen, erbärmlichen Kraft der Hoffnung, dass es schon werden würde. Zach würde zu sich finden. Er würde Freunde haben, am Leben teilnehmen. In sich selbst hinein-, aus seinen Problemen herauswachsen … In allen Varianten hatte Susan das in Gedanken während schlafloser Nächte durchgespielt. Aber darunter pochte der dunkle, unbarmherzige Rhythmus des Zweifels: Zach hatte keine Freunde, war schweigsam, zögerlich in allem, was er tat, seine Schulleistungen bestenfalls ausreichend. Tests quittierten einen überdurchschnittlichen IQ, keine erkennbaren Lernstörungen – aber das Gesamtpaket Zachary Olson ließ zu wünschen übrig. Und manchmal steigerte sich die leise Melodie des Versagens zum Crescendo einer unerträglichen Gewissheit: Es war ihre Schuld.

Wessen Schuld sollte es sonst sein?

Auf der Universität hatte Susan sich vor allem für die Kurse in Kindesentwicklung interessiert. Im Besonderen für die Bindungstheorien. Die Bindung an die Mutter schien von größerer Bedeutung als die Bindung an den Vater, obwohl auch die natürlich wichtig war. Aber die Mutter war der Spiegel, in dem das Kind sich wiederfand, und Susan hatte sich ein Mädchen gewünscht. (Sie wollte zuerst drei Mädchen, dann einen Jungen, der wie Jim sein sollte.) Ihre Mutter hatte die Jungen lieber gemocht, das sah Susan in schreiender Deutlichkeit. Ihre Töchter wollte sie ohne jede Einschränkung lieben. Das Haus sollte von ihren fröhlichen Stimmen erfüllt sein; sie sollten Make-up benutzen, mit Jungen telefonieren, Pyjamapartys feiern, in Läden gekaufte Kleider tragen dürfen – alles, was Susan nicht gedurft hatte.

Sie hatte eine Fehlgeburt. »Was musstest du auch aller Welt davon erzählen«, sagte ihre Mutter. Aber man sah es doch, wie hätte sie es im zweiten Trimenon für sich behalten sollen? »Ein Mädchen«, sagte der Arzt, weil sie nachgefragt hatte. In der ersten Nacht nahm Steve sie in die Arme. »Das nächste ist hoffentlich ein Junge«, sagte er.

Als wären es Spielzeuge auf dem Ladenregal; eins fiel herunter und zerbrach, das nächste blieb hoffentlich heil. Nein, sie hatte ihre Tochter verloren! Und sie lernte – frisch, sengend – die Isolation der Trauer kennen. Als gehörte sie plötzlich einem großen, exklusiven Club an, von dessen Existenz sie vorher nichts gewusst hatte: Frauen mit Fehlgeburten. Der Gesellschaft draußen waren sie egal. Herzlich egal. Und die Frauen im Club gingen meist schweigend aneinander vorbei. Die Menschen draußen sagten: »Dann bekommst du eben noch eins.«

Die Krankenschwester, die ihr Zachary in die Arme legte, musste ihre Tränen für Freudentränen halten, aber es war sein Anblick, der Susan zum Weinen brachte: mager, nass, fleckig, die Augen fest geschlossen. Er war nicht ihr kleines Mädchen. Der beängstigende Gedanke durchzuckte sie, dass sie es ihm vielleicht nie verzeihen würde. Er lag an ihrer Brust und wollte nicht saugen. Am dritten Tag drückte die Schwester ihm einen kalten Waschlappen an die Backe, um ihn ein bisschen aufzuwecken, aber er klappte nur verschreckt die Augen auf und legte sein Gesichtchen in Kummerfalten. »O bitte«, flehte Susan die Schwester an, »machen Sie das bitte nicht noch mal.



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