Strom und Vorurteil by Kathrin Passig

Autor:Kathrin Passig
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Independent
veröffentlicht: 2020-01-05T16:00:00+00:00

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Code und Charakter

Kurz vor dem Abschied von der Verwandtschaft fällt mir ein, dass ich demnächst in einem Interview die Frage beantworten soll, ob alle Menschen programmieren lernen sollten. Ich erkundige mich noch schnell nach den Meinungen der Anwesenden. Der Neffe, 17 und Spieleentwickler, sagt: “Auf jeden Fall! Und zwar weil man dabei andere Problemlösungsstrategien als im Matheunterricht lernt. Beim Programmieren gibt es mehr als eine Lösung und viel mehr als einen richtigen Lösungsweg.” (Ich vermute zwar, das könnte in der Mathematik ähnlich sein, aber davon erfährt man in der Schule nichts, die Zeit ist ja schon für den einen Lösungsweg oft knapp bemessen.)

Die Tochter des Cousins ist 16 und in mehr Programmiersprachen zu Hause als ich. Sie ist ebenfalls der Meinung, dass das alle können sollten, weil man dabei lerne, große Probleme in kleine zu zerlegen.

Auch der Bruder, der Robotik unterrichtet, findet, dass vom Programmieren alle profitieren: Man übe dabei nützliche Prinzipien ein, die man auch in der effizienten Haushaltsführung gebrauchen könne: Oft gebrauchte Gegenstände an leicht zugänglichen Orten aufbewahren zum Beispiel. Das klingt wie eins von diesen 80er-Jahre-Argumenten für die Anschaffung eines Computers, die die vermuteten Interessen von Frauen ansprechen sollten: “Man kann damit auch Kochrezepte verwalten”. Da der Bruder im siebenköpfigen Haushalt für die Küche zuständig ist und die Kunst der Pfannkuchenherstellung an drei Pfannen gleichzeitig beherrscht, spricht er hier aber von seinen eigenen Erkenntnissen, nicht von denen fiktiver Hausfrauen.

Dann muss ich zum Zug und finde deshalb nichts über die Meinungen der restlichen Verwandtschaft heraus. Grundsätzlich bin ich seit dem Lateinunterricht skeptisch, wenn als Argument für das Lernen einer bestimmten Fähigkeit alles angeführt wird, nur nicht die Tatsache, dass man danach eben diese Fähigkeit hat. Aber anders als bei Latein ist der unmittelbare Nutzen von Programmierkenntnissen derzeit nicht sehr erklärungsbedürftig: Zum Beispiel verdient man damit Geld und muss nicht ganz so viel über Kürzungen und Kündigungen nachdenken wie in vielen anderen Berufsfeldern. Das steht auch schon überall. Deshalb möchte ich bei der von der Verwandtschaft begonnenen Aufzählung indirekter Vorteile bleiben.

Wer Code schreibt, gewinnt unmittelbare Einsicht in die eigene Fehlbarkeit. Wenn man alles falsch gemacht hat, geht es nicht, da hilft kein Schönreden. Als Nächstes lernt man, dass man nicht nur Fehler gemacht hat, sondern auch im zweiten, dritten und achtunddreißigsten Versuch noch das Ziel verfehlt. Bis der Code funktioniert, bastelt man lange an ihm herum. Dabei erwirbt man vielleicht nicht gerade Geduld, denn der Vorgang ist meistens mit Geschrei verbunden, aber doch jedenfalls die Zuversicht, dass es irgendwann klappen wird. Das ist zwar bei anderen Beschäftigungen theoretisch genauso, aber dort finden die Lernvorgänge viel zu oft öffentlich statt. Deshalb gelingt vielen Menschen das Erlernen von Fähigkeiten wie Skateboarden, Geigen oder Benutzung des Multifunktionskopierers im Büro nur in einem Alter, in dem das Peinlichkeitsempfinden noch nicht vollständig ausgebildet ist.

Nachdem sie eine Weile auf gut Glück das Nichtfunktionierende geschüttelt und verflucht haben, kommen die meisten von allein auf die Idee, systematische Fehlersuche zu betreiben. Auch das ist eine Fähigkeit, die außerhalb der Softwareentwicklung und vielleicht noch der Wartung von Abwasserleitungen wenig geübt wird.

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