Stiller by Max Frisch
Autor:Max Frisch
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2010-12-31T23:00:00+00:00
Fünftes Heft
Die heutige Veranstaltung ist für meinen Verteidiger, diesen emsigen Mann, der nach wie vor den verschollenen Stiller verteidigt, gänzlich mißglückt: Apéritif-Konfrontation mit den führenden Kritikern des Städtchens! Und sieh da, es war einfach nett. Die Bitte eines jungen Herrn, daß ich gewisse Pointen, geschrieben vor sieben Jahren, keinesfalls persönlich nehmen dürfte, war rührend in ihrer Überflüssigkeit. Auch eine Dame war dabei, eine reife Persönlichkeit, jemand wie eine Tempelhüterin, dabei von einer menschlichen Bescheidenheit, die man auf den ersten Blick sehen kann. Meine Versicherung, daß ich gar nicht der vermeintliche Stiller bin, erleichterte die kleine Versammlung der Kritiker sichtlich, und dann kam auch der Whisky. Ich erkundigte mich bei der Dame, warum sie mir vorher die Hand verweigert hätte. Da wurde es wieder etwas peinlich, doch nur für Augenblicke. Hätte sie gewußt, daß es sich um Stiller handelte, wäre die Dame überhaupt nicht an diesen Kaffeehaustisch gekommen. Stiller muß sich dieser Dame gegenüber ganz unflätig benommen haben. Mein Verteidiger blickte mich an, und auch ich wurde neugierig; die Art und Weise, wie die Dame sich verschwieg, ließ allerhand vermuten. Stiller hatte dieser Dame einmal einen Brief geschrieben, höre ich, und sie als ›Lehrerin‹ angerempelt, bloß weil sie ihm eine wahre Künstlerschaft abzusprechen einfach durch Geist, durch Liebe zum Geist, durch innerste Verpflichtung gegenüber der Kunst aller Zeiten gezwungen war und immer gezwungen sein wird. Ich griff die Hand dieser grazil-temperamentvollen Dame, was wohl zu weit ging, und sagte: Frau Doktor, Sie reden mir aus dem Herzen! Es handelt sich um die Skulptur, die ich neulich in einer öffentlichen Anlage selbst gesehen habe. Zwar meinte die Dame es immerzu etwas anders als ich, differenzierter, aber wir unterhielten uns mit strengen Maßstäben, und infolgedessen ging es auch bald nicht mehr um den verschollenen Stiller, der solchen Maßstäben nicht standhält, sondern um die Dame selbst, um die Kritik als solche, wovon sie sehr viel versteht. Ich begreife ihren Entschluß, nie wieder über Stiller zu schreiben, Stiller einfach der Vergessenheit zu überlassen; was könnte ich in meiner Lage, wo dieser Verschollene mir überall im Wege steht, Besseres wünschen! Und auch die Herren, wie gesagt, waren einfach nett; man muß einem Kritiker nur in aller Offenheit versichern, daß man kein Künstler ist, und schon führen sie ein Gespräch mit uns, als verstünde man von Kunst soviel wie sie.
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