Stille Zeile Sechs. Roman by Monika Maron

Stille Zeile Sechs. Roman by Monika Maron

Autor:Monika Maron [Maron, Monika]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104001722
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2015-07-29T16:00:00+00:00


»Als es Nacht war in unserem Vaterland,

du eingesperrt und geschunden,

ich in ferne Länder verbannt,

da haben sich unsere Blicke gefunden

fern in der Zukunft, wo die rote Fahne uns wehte.

Dank dir, Genossin Grete.

Als die Mutlosigkeit fast schon Sieger war

und das heilige Moskau fast brannte,

da dachte ich an dein goldenes Haar

und dein Herz, das die Furcht nicht kannte.

Es war dein Mut,

der meine Schwäche verwehte.

Dank dir, Genossin Grete.«

Er ließ die Hand, mit der er die Verse in ausholenden, rhythmischen Gesten begleitet hatte, sinken und sagte, noch immer mit halbgeschlossenen Augen: Ja, das habe ich für sie geschrieben. Ich weiß, ich bin kein Dichter, aber da brachen sich meine Worte des Dankes Bahn in Versen. Sie sind zu jung, um zu wissen, was es bedeutet, sich in Zeiten der Barbarei eines aufrechten Menschen sicher zu sein. Gießen Sie noch einmal nach, Rosa, auf einem Bein steht es sich schlecht. Grete und ich waren noch nicht verheiratet, als die Partei beschloß, mich in die Emigration zu schicken. Grete blieb in Deutschland. Vor meiner Abreise versprachen wir uns: Falls wir beide die Nazis überleben sollten, treffen wir uns um halb zehn am Sonntag nach dem Krieg vor dem Friedrichstadtpalast. Grete war sechs Wochen vor mir da. Sie kam jeden Sonntag, am sechsten Sonntag kam auch ich, mit einem großen Strauß Margeriten, den ich im Garten einer zerbombten Villa geklaut hatte. Margeriten waren Gretes Lieblingsblumen.

Wie den ersten, goß er den zweiten Kognak entschlossen in sich hinein. Obwohl ich das Gedicht scheußlich fand, konnte ich nicht verhindern, daß ich ihm zum ersten Mal glaubte. Ich sah ihn vor mir, wie er, ein fast noch junger Mann, mit offenem Kragen und aufgerollten Ärmeln, die Margeriten in der Hand, durch die Trümmerberge der Berliner Innenstadt lief. Ich roch den kalkigen Staub, der von den Ruinen aufstieg und der morgendlichen Sommerluft den Geruch des Krieges beimischte; sah, wie eine junge Frau, getrieben von Erwartung und geduckt unter der Furcht vor Enttäuschung die Spreebrücke überquerte; wie sie einander entgegenflogen und nicht glauben konnten, daß sie sich wiederhatten. Alle Bilder sich wiederfindender Paare, die ich im Leben und in Filmen gesehen hatte, vereinten sich in diesem.

Hatten Ihre Genossen Ihnen nicht erzählt, daß Grete lebte und in der Stadt war, fragte ich.

Ich kam am Sonnabend in Berlin an und schlief bei einem Pankower Genossen, der von Grete gehört hatte, aber nicht wußte, wo sie wohnte. Es war so, wie ich Ihnen erzählt habe. Grete war dreiunddreißig und ich war vierzig. Glauben Sie mir, ich habe geweint, als ich die Stadt wiedersah. Wohin ich blickte, nur Zerstörung, zerstörte Häuser, zerstörte Menschen, jeder zweite ein Nazi, der Rest Mitläufer. Und wir, eine Handvoll halbverhungerter und zerschlagener Kommunisten und Antifaschisten, hatten den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, ja, so war es.

Dann, wie bei meinem ersten Besuch in Beerenbaums Haus, überfiel mich jener Schwindel, der mich glauben machte, ich hätte das alles schon einmal erlebt, wüßte jeden Satz, der dem eben gesprochenen folgen würde, auch den Ton, in dem er ihn sprechen würde.



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