Sternwanderer by Neil Gaiman
Autor:Neil Gaiman
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2010-12-09T23:00:00+00:00
Die Lösung war naheliegend. Schließlich war das Einhorn schon fast den ganzen Morgen hinter ihnen her gelaufen, wobei es die Sternfrau gelegentlich in die Schulter geknufft hatte. Die Wunden auf seinen scheckigen Flanken, tags zuvor unter den Klauen des Löwen grell wie rote Blumen, waren nun getrocknet und mit Schorf bedeckt.
Die Sternfrau hinkte und humpelte und stolperte, und Tristran trottete neben ihr her, sein Handgelenk mit der kalten Kette an das ihre gefesselt.
Einerseits hatte Tristran fast das Gefühl, es wäre ein Sakrileg, auf dem Einhorn zu reiten. Schließlich war es ja kein Pferd und hatte daher auch nichts mit der uralten Übereinkunft zwischen Mensch und Pferd zu schaffen. In seinen schwarzen Augen funkelte es wild, sein Gang hatte etwas Unberechenbares an sich, etwas Gefährliches und Ungezähmtes. Andererseits spürte Tristran immer mehr, daß das Einhorn Mitgefühl für die Sternfrau empfand und ihr helfen wollte, auch wenn er dies nicht mit Worten hätte beschreiben können. Deshalb sagte er schließlich: »Sieh mal, ich weiß ja, daß du mit jedem Schritt meine Pläne durchkreuzen willst, aber wenn das Einhorn dazu bereit ist, würde es dich vielleicht ein Stückchen auf dem Rücken tragen.«
Die Sternfrau erwiderte nichts.
»Nun?«
Sie zuckte die Achseln.
Tristran wandte sich an das Einhorn und blickte ihm fest in die tiefschwarzen Augen. »Kannst du mich verstehen?« fragte er. Das Einhorn schwieg. Er hatte gehofft, es würde mit dem Kopf nicken oder mit dem Huf aufstampfen, wie er es einmal bei einem Dressurpferd auf dem Dorfanger gesehen hatte, als er noch klein war. Aber das Einhorn erwiderte nur stumm Tristrans Blick. »Trägst du die Dame? Bitte?«
Zwar sagte das Tier kein Wort, es nickte oder stampfte auch nicht, aber es ging zu der Sternfrau hinüber und kniete vor ihr nieder.
Tristran half der jungen Frau auf den Rücken des Einhorns. Mit beiden Händen griff sie in die zerzauste Mähne und streckte im Damensitz das gebrochene Bein von sich. Auf diese Weise kamen sie nun schneller voran.
Tristran trabte neben den beiden her; seine Tasche baumelte am einen Ende der Krücke, die er sich über die Schulter gelegt hatte. Für ihn war das Vorwärtskommen jetzt, da das Einhorn den Stern trug, mindestens ebenso beschwerlich wie zuvor. War er vorher gezwungen gewesen, langsam zu gehen und sich dem hinkenden Gehumpel des Sterns anzupassen, mußte er sich jetzt beeilen, um mit dem Einhorn Schritt zu halten, immer voller Sorge, daß er zu weit zurückfiel und die Kette, die ihn mit der Sternfrau verband, diese vom Rücken des Einhorns zerren könnte. Sein Magen knurrte beim Gehen, und ihm war aufs unangenehmste bewußt, wie hungrig er war. Bald dachte er nur noch ans Essen. Er bestand nur noch aus Hunger, fühlte sich, als würde sein Körper notdürftig zusammengehalten von Haut und Muskeln, und es war kein Ende abzusehen.
Schließlich geriet er ins Stolpern und merkte, daß er gleich hinfallen würde.
»Halt an, bitte!« japste er.
Das Einhorn verlangsamte seine Schritte und blieb stehen. Die Sternfrau blickte auf Tristran herab. Dann verzog sie das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Du solltest am besten auch aufsteigen«, sagte sie. »Wenn das Einhorn dich läßt.
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