So viel Anfang war nie by Läpple Christhard

Autor:Läpple, Christhard
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: btb
veröffentlicht: 2017-01-20T10:31:09+00:00

IV Der Rausch

»Er hatte immer Hunger.« Sie zögert. Dann legt Anke Reinig los und lacht aufgekratzt ins Telefon. »Der Junge war so niedlich, so süß, so anders. Wie hieß er noch?« Die Schauspielerin betont süß und niedlich, dehnt die Vokale ü und i, als müsste sie in einer Talkshow brillieren. Der Name des Jungen fiele ihr nicht mehr ein, bedauert sie, da müsse sie ihren damaligen Freund fragen, er verfüge über ein großartiges Namensgedächtnis. »Der Junge war unser Maskottchen, ein kleiner Wilder, so anhänglich.« Jetzt dehnt sie das so zu einem langen furiosen Echo. So anhänglich.

Der kleine Wilde hatte blonde Locken, war neugierig und scheu zugleich. Schuhe trug er selten. Er lief barfuß durchs Dorf. Barfuß. Was für ein schönes Wort. Es klingt nach Kindheit. Unbeschwertheit. Leichtigkeit. Wie kein anderer konnte er auf Bäume klettern. Er sah aus, als wäre er einer Erzählung von Astrid Lindgren entsprungen. Als wäre Herzdorf Bullerbü. Der Barfußjunge beobachtete, was im Park vor sich ging. Das Sprechen fiel ihm schwer. Er war verdreckt wie eine Ziege, häufig kratzte er sich an seinem verstrubbelten Lockenschopf. »Ich kaufte ihm ein Läuse-Shampoo. Wir haben ihn erst mal entlaust.«

Am Bauch trug der Junge eine große Narbe. Die Spuren eines Schraubenziehers, den ihm sein Bruder in den Bauch gerammt hatte. Warum? Darüber verlor er kein Wort. Wie alt er wirklich war, wusste keiner. Niemand im Dorf kümmerte sich um ihn. Manchmal steckten ihm Nachbarn etwas Essbares zu. Ein echtes Straßenkind, dieser Barfußjunge. Er hatte viel Zeit, konnte gerade bis zehn zählen, obwohl er längst zur Schule ging. Den Unterricht schwänzte er häufig. Der kleine Blondschopf hatte Schwierigkeiten, seinen Namen zu schreiben.

Fritz nannten sie ihn, in diesem schönen heißen Sommer Mitte der neunziger Jahre. Er gehörte zu den Baders, den Asozialen, wie die Einheimischen sagten. Als die Theaterleute ins Dorf kamen, wahrte er anfangs Abstand. Jeden Tag wagte er sich ein Stück näher, versteckte sich im hohen Gras am Rande des Gutsparks, den Schauspieler, Regisseure, Hilfsregisseure, Dramaturgen, Maskenbildner, Beleuchter, Tontechniker, Kulissenschieber und anderes künstlerisches Volk okkupiert hatten. Fritz staunte und wunderte sich. Er sah Männer mit langen Haaren und dunkler Sonnenbrille auf dem Kopf. Diese trugen sie lässig, auch wenn die Sonne nicht schien oder längst untergegangen war. Er sah bunt geschminkte Frauen, die wie Prinzessinnen durch den Park wandelten. Er hörte Befehle, Rufe, Schreie, Lachen und Lieder. Es war dieses flirrende Schwirren und Plappern, das ihn faszinierte.

Fritz war der Junge, der den Turmsturz überlebt hatte. Als die Kirche noch eine Ruine war, der Park eine verlassene Ödnis und das Dorf unbewohnbar erschien wie der Mond. Die Schauspieler kümmerten sich um den kleinen Barfußjungen. »Wir haben ihm das Lesen und Schreiben beigebracht. Er war in der Lage zu lernen, nur niemand förderte ihn. Er hing besonders an einer Schauspielerin«, beschreibt der sonnenbebrillte Regisseur den Jungen, der ihn an ein Wolfskind erinnerte. »Er war ungefähr sieben, acht Jahre alt. Auch seine Schwester schaute häufig bei uns zu. Auch sie hatte blonde Locken, war verwahrlost und sprachlich gehemmt. Sie mochten die Theateratmosphäre. Das Proben.

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