Sinnliche Gewißheit by Robert Menasse

Sinnliche Gewißheit by Robert Menasse

Autor:Robert Menasse [Menasse, Robert]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik, Moderne
ISBN: 9783518758540
Herausgeber: Suhrkamp
veröffentlicht: 2017-06-14T22:00:00+00:00


Warum?

»Ja, warum? Roman, wie kann ich das erklären? Will ich das erklären, erklären können? Wenn eine Beziehung nicht aus einem bestimmten Grund scheitert, scheitert sie aus dem gegenteiligen Grund. Ein Sachverhalt ist als Grund dafür, daß eine Beziehung scheitert, so gut wie der gegenteilige Sachverhalt. Eine Beziehung kann scheitern, weil Liebe in Gleichgültigkeit umschlägt, aber auch, weil Gleichgültigkeit in Liebe umschlägt, eine Beziehung kann am Fehlen von Intensität zerbrechen, sie kann aber auch plötzlich an der Intensität zerbrechen, das ist ja alles ganz trivial. Das ist es vielleicht: die Trivialität ist der gemeinsame Nenner aller Widersprüchlichkeiten, an denen eine Beziehung zerbricht. Ich weiß nicht. Die Liebe ist ja, wenn man sie spürt, ein unglaublich exklusives, ein besonderes Gefühl, aber die Triumphe, die sie feiern will, sind immer unglaublich trivial. Ich kann mich zum Beispiel erinnern, daß ich einmal zu ihr gesagt habe – was natürlich nichts erklärt, aber immerhin illustriert –, daß ich ohne sie nicht mehr leben könne. Das heißt, das war das, was ich vielleicht empfunden habe, aber sagen wollte ich es so nicht, nicht so banal, und so sagte ich, um stärker und gelassener zu erscheinen, daß ich zwar ohne sie auch leben, aber mit ihr viel besser leben könne. Sie hat gesagt, daß sie sich dadurch beleidigt fühle. Man könne auch mit einem Kühlschrank besser leben als ohne Kühlschrank und mit Waschmaschine besser als ohne Waschmaschine und so weiter. Da sehen Sie, wie egal es ist, welche Banalität man sagt, hätte ich gesagt, daß ich ohne sie nicht mehr leben könne, dann hätte sie geantwortet, daß es Menschen gibt, die glauben, ohne Kühlschrank oder ohne Auto oder was weiß ich nicht mehr leben zu können. Ihre Antwort ist auf alle Fälle richtig, egal, wie ich mein Gefühl, das sich nur banal formulieren läßt, formuliere, und dadurch einen Menschen mit einem Gebrauchsgegenstand gleichsetze. Es ist auch egal, daß ich das nicht so gemeint habe, und es ist auch egal, daß sie genausogut anders hätte reagieren können, etwa, daß sie sagt: ich kann auch ohne dich nicht mehr leben – und irgendwann kommt man natürlich drauf, daß man sehr wohl ohne den anderen leben könnte, und dann war auch alles eine banale Lüge, also was soll’s.

Ich habe sie so bewundert, ihre Stärke, ihre Intelligenz, ihre Unduldsamkeit gegenüber allem Trivialen, daß ich, bei Auseinandersetzungen, dann immer auf das eingeschwenkt bin, was sie gesagt hat, nicht aus Harmoniebedürfnis, sondern weil ich wirklich immer das Gefühl gehabt habe, erst durch sie das Betreffende plötzlich richtig zu sehen, entschleiert und in einem umfassenderen Licht, und das hatte natürlich alles hinfällig gemacht, was ich vorher gesagt habe, weshalb ich es dann eben zurückgenommen habe, aber sie hat dann etwa gesagt, daß mein Verhalten sie an die Demutsgesten erinnere, wie die Verhaltensforschung sie bei den Wölfen kennt. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß die Wölfe –«

Ja, ja, sagte ich. Ich muß gestehen, daß mich langweilte, was der Professor erzählte, der Wein tat ein übriges, daß ich ihm ohne Mühe nicht folgen konnte.

Meine Generation ist ja leider die Generation der Beziehungsphilosophie.



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