Selige Zeiten, brüchige Welt by Robert Menasse

Selige Zeiten, brüchige Welt by Robert Menasse

Autor:Robert Menasse [Menasse, Robert]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik, Moderne
ISBN: 9783518758519
Herausgeber: Suhrkamp
veröffentlicht: 2017-06-14T22:00:00+00:00


Leo versuchte, in Judiths Gesicht das Gesicht wiederzufinden, in das er sich einst verliebt hatte, da war es, er sah es ganz deutlich, aber es war zugleich eigentümlich verwüstet, als hätte Judith irgendein schreckliches zerstörerisches Erlebnis gehabt. Was könnte das gewesen sein? Was hatte sie erlebt? Ohne ihn. Es mußte an die Wurzeln ihrer Existenz gegangen sein, etwas Tödliches, dachte Leo, er hielt verwundert beim Dozieren inne, der Tod, hatte sie ihren Tod – erlebt? Rasch redete er weiter. Er erzählte von seiner Arbeit, seiner Fortsetzung der Phänomenologie des Geistes, die die Bewußtseinsgeschichte bis in die Gegenwart heraufführen und zum Abschluß bringen solle. Es klang so, als würde er täglich daran arbeiten, in Wahrheit erzählte er, statt zu arbeiten. Er referierte, was er geschrieben hatte, in Wahrheit aber, was er schreiben hätte wollen, wenn er es nur könnte. Er entwickelte vor ihr Thesen, als wären sie die Ergebnisse langer leidvoller Nachdenkprozesse, in Wahrheit waren sie ihm gerade in diesem Moment eingefallen, sein Werk machte Fortschritte nur beim Reden, und doch nicht, denn alles Hingesagte war danach wieder verloren und vergessen. Nicht einmal in Judiths Armen gelang es ihm, vor seinem inneren Auge sein Werk aufzurichten, er wollte sich unter Judiths Berührungen seinem Werk hingeben, in seiner Phantasie geradezu körperlich erleben, wie es Gestalt annahm, er suchte in der Erregung erregende Gedanken, versuchte im Rhythmus den Rhythmus seiner Sprache zu finden, weil er meinte, daß der besessene Geist darin kulminiere und sich in Fruchtbarkeit erlöse. Aber er blieb sprachlos, beinahe wortlos, er schloß die Augen, er öffnete die Augen, aber alles, was er sah, was er wußte, was ihm einfiel, war Judith, und da entschlüpfte ihm ihr Name, Judith!, sagte er und erschrak, als hätte er sich, nach begangener Untreue, verraten.

Tatsächlich war er treulos, wenn er nichts arbeitete, dann aber bei Judith immer »Werk!« sagte. Aber von seinem Werk wenigstens zu reden, immer wieder, unnachgiebig, war für ihn die einzige Möglichkeit, seinen Anspruch nicht untergehen zu lassen in dem Leben, das er nun führte. Da sein Werk jedoch in Wirklichkeit nicht existierte, nicht einmal als Werdendes, erhob er es gleich selbst ins Mythische. So erzählte er etwa von seinem »Oblomow-Baum«, unter dem er seine »Erleuchtung« gehabt habe – und falls Judith sich wundere, daß ausgerechnet er, den sie als lebens- und lustfeindlichen, an den Schreibtisch gefesselten Menschen kennengelernt habe, plötzlich ganze Nachmittage genüßlich unter einem Baum liege, um nach Lust und Laune vor sich hin zu träumen, nun, dann müsse sie eben ganz klar sehen, daß er mittlerweile gelernt habe, Lust und Notwendigkeit harmonisch zu verbinden. Leo hatte kurz gestutzt, als er »an den Schreibtisch gefesselt« gesagt hatte, und prompt hatte er gleich darauf »träumen« gesagt. Der Traum. Judith hatte ihn nicht nur vom Eßtisch losgebunden, so wie er es geträumt hatte, sondern auch vom Schreibtisch. Aber das war nur ein ganz kurz aufblitzender Gedanke gewesen, rasch hatte er weitergeredet, Lust und Notwendigkeit harmonisch zu verbinden. Es war zwar nicht wahr, was er von sich erzählte, aber doch war das Ziel seiner Lügen die Wahrheit, er wollte herstellen, wovon er redete.



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