Seiltanz zwischen den Welten (German Edition) by Hannah Siebern

Seiltanz zwischen den Welten (German Edition) by Hannah Siebern

Autor:Hannah Siebern [Siebern, Hannah]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2017-07-02T22:00:00+00:00


* * *

Ich nahm mir ein Herz und kam der Aufforderung nach. Das Erste, was ich sah, waren riesige Regale mit einer Menge an alten Büchern, deren Titel ich noch nie gehört hatte. Ein Feuer brannte in dem schwarzen Kamin und mehrere Sessel standen um einen flachen Tisch herum.

»Komm nur näher, Mädchen«, sagte die Frauenstimme. »Keine Sorge. Ich werde dich schon nicht beißen.«

Ich schluckte und trat vor, bis ich eine Frauengestalt in einem der hohen Sessel sehen konnte. Die Dame war überraschend hübsch. Sie war hochgewachsen, schlank und hatte ihr ergrautes Haar zu einem Dutt zusammengebunden. Ihre Augen waren freundlich und sie lächelte mich ermutigend an.

»Es freut mich, dass du mich besuchen kommst. Es passiert so selten, dass Scott jemanden zu mir vorlässt.«

Irritiert sah ich sie an. Hatte Scott nicht behauptet, dass sie menschenscheu war? Vielleicht hatte er gelogen und er selbst war in Wirklichkeit der Grund für die Isolation seiner Frau. Sie erschien mir auf jeden Fall alles andere als scheu.

»Setz dich doch«, bat sie und ich kam ihrer Aufforderung ohne zu zögern nach. »Also. Wie heißt du, mein Mädchen?«

Ich stieß ein Krächzen aus und räusperte mich, um meine Stimme wiederzufinden.

»Jekaterina«, sagte ich dann. »Jekaterina Nikolajewa.«

»Oh ja. Ich habe schon von dir gehört. Du hast das Haus der de Bourghs besucht, nicht wahr?«

»Woher wissen Sie das, Mrs …?«

»Ach, nenn mich Rosa«, bat sie. »Weißt du … Geister sind alle Tratschtanten. Das ist ja auch der Grund, warum es für Seher heutzutage so gefährlich ist. Es gibt immer jemanden, der euch schaden will.«

Ich nickte, als wüsste ich genau, wovon sie redete.

»Nun gut. Also. Was führt dich zu mir, Mädchen? Wie kann ich dir helfen?«

Ich zögerte. Bei einer anderen Person hätte ich es nie über mich gebracht, einfach zuzugeben, dass ich nachts von Geistern besessen war. Da Rosa aber so selbstverständlich mit dem Thema umging, schaffte ich es, über meinen Schatten zu springen und fing an zu erzählen. Ich berichtete alles, von meiner Begegnung mit Ewan über meine nächtlichen Waldspaziergänge bis hin zu meinen aufgekratzten Fingern. Rosa unterbrach mich kein einziges Mal, sondern kommentierte meinen Vortrag nur zwischendurch mit einem aufmunternden Nicken oder einem Lächeln. Als ich geendet hatte, führte Rosa eine ihrer schlanken Hände zum Mund und strich sich nachdenklich über die Unterlippe.

»Ewan hat einen Fehler begangen, als er den Kontakt zu dir abbrach«, sagte sie. »Er wollte dich damit schützen, aber dafür ist es bereits zu spät. Ein Geist, der dir Böses will, hat dich im Visier und wird nicht aufhören, bis er dich vor Angst um den Verstand gebracht hat.«

»Oh Gott«, stieß ich hervor. »Das war jetzt aber nicht das, was ich hören wollte. Gibt es denn nicht irgendetwas, was ich dagegen tun kann?«

Rosa lächelte mich beruhigend an.

»Aber natürlich gibt es das. Du kannst in die Offensive gehen. Härte dich gegen die Geister ab. Tu das Gegenteil von dem, was Ewan dir geraten hat. Halte dich nicht von ihnen fern, sondern verbring Zeit mit ihnen. Gewöhne dich an ihre Eigenarten und Macken. Wenn du ihre Fähigkeiten und Grenzen kennst, dann wirst du dich nicht mehr vor ihnen fürchten.



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