Seht mich an by Anita Brookner
Autor:Anita Brookner
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Eisele Verlag
veröffentlicht: 2021-01-01T00:00:00+00:00
8 Nach diesem wundervollen Tag schien es mir, als ob unsere Aufmerksamkeit füreinander abnahm, als ob der Halt, den wir aneinander fanden, schwand. Es waren nur noch zehn Tage bis Weihnachten. Wir hatten eine kleine Feier in der Bibliothek, hauptsächlich wegen Mrs. Halloran. Dr. Leventhal schenkte behutsam den Sherry in ziemlich kleine Gläser ein, und ich verteilte Pasteten, die mit einer Mischung aus Rosinen, Korinthen, Ãpfeln, Zucker, Hammelfett und Rum gefüllt waren. Es herrschte nicht gerade überschäumende Fröhlichkeit bei dem festlichen Anlass, wenn auch Mrs. Halloran, die ganz in Grün erschienen war und eine Menge unsäglichen Zinnschmuck zur Schau stellte, sich groÃartig amüsierte, nach vier Gläsern Sherry allerdings ziemlich sentimental wurde und ein paar nebelhafte Prophezeiungen für das neue Jahr aussprach. »Alles, was ihr euch selbst wünscht, Mädchen!«, verkündete sie ebenso wie später am Nachmittag, als ich ihr eine Tasse Tee brachte, und noch später, als sie endlich dazu überredet werden konnte, nach Hause zu gehen.
Nick nahm an der Feier teil und James schaute herein, blieb aber nicht. Ich hatte Nick seit über einer Woche nicht mehr gesehen, das heiÃt, seitdem er uns in dem bewussten Garten aufgenommen hatte, und ich war überrascht von der Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Selbstverständlich war er charmant zu Mrs. Halloran, die er wie gewöhnlich neckte, und es fiel mir auf, dass er lange blieb, obwohl es nichts gab, was ihn hier zurückhalten konnte. Seine Züge zeigten, sobald sie sich nicht zu seinem gewohnten strahlenden Lächeln verzogen, eine gewisse Ausdruckslosigkeit. Das war bei ihm so ungewöhnlich, dass ich mich fragte, ob er krank sei, auch wenn er gesund aussah. Aber er schien sich unbehaglich zu fühlen, er wirkte ratlos und zerstreut. Er schien mit seinen Gedanken meilenweit entfernt zu sein. Er wirkte abwesend und passiv. Er lehnte meine Pasteten mit einem kleinen mechanischen Lächeln ab, um alsbald wieder in einen Zustand von Träumerei zu verfallen, aus dem er nur auftauchte, um mit Mrs. Halloran zu flirten. Ich überlegte mir, ob irgendetwas passiert sein könnte, und als wir beide einmal auÃer Hörweite der anderen waren, fragte ich ihn. Er warf die Arme hoch und setzte zum Spaà eine Armesündermiene auf. »Verzeihung! Ich bitte um Vergebung. Ich glaube, ich bin heute nicht sehr gesellig«, sagte er, was meine Frage unbeantwortet lieÃ. Ich behielt seine Gebärde besser im Gedächtnis als seine Worte. Nach einigen Augenblicken der Verwirrung fiel mir ein, dass es dieselbe Gebärde war, die er für gewöhnlich machte, wenn er Dr. Simeks Artikel nicht gelesen hatte. Oder wenn er ihn zum Essen einlud.
Diese letzte Ãberlegung stimmte mich nachdenklich. Denn in diesem Moment kam mir zu Bewusstsein, dass ich allmählich von den gemeinsamen abendlichen Restaurantbesuchen ausgeschlossen wurde. Jedenfalls bildete ich es mir ein. Wir waren seit einer Woche nicht mehr zusammengekommen. Natürlich war es möglich, dass auch sie die weihnachtliche Hetze ergriffen hatte; aber ich konnte nicht einsehen, warum sich das auch auf ihre Abende auswirken sollte. James schien ebenfalls sehr in Anspruch genommen zu sein. Er hatte zahlreiche kleine Nichten und Neffen zu bedenken, und ich war gern bereit, ihm bei den Einkäufen zu helfen.
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