Sehr geehrter Herr M. by Herman Koch

Sehr geehrter Herr M. by Herman Koch

Autor:Herman Koch [Koch, Herman]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-462-30913-3
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch Verlag
veröffentlicht: 2015-03-25T04:00:00+00:00


»Ich muss mal kurz verschwinden«, sagte Laura; sie stellte das Weinglas neben die Schale mit den Nüssen.

»Am Ende des Gangs die zweite Tür links«, sagte Landzaat.

Es war auch das Badezimmer. Bevor sie sich hinsetzte, inspizierte sie sich im Spiegel über dem Waschbecken. An diesem Abend hatte sie sich für das nicht geschminkte Gesicht entschieden, sie sah die roten Flecken auf ihren Wangen, wahrscheinlich Folge der zwei Gläser Rotwein. Auch in diesem Raum nichts Persönliches, sie müsste die Schränkchen zu beiden Seiten des Spiegels öffnen, um herauszufinden, welche Parfüms und Cremes die Frau des Hauses bevorzugte. In einem Glas auf dem Waschbecken stand eine Zahnbürste – die anderen standen in diesem Moment ganz sicher auch in einem Glas, aber dann im Badezimmer eines Bungalows in der Veluwe.

Laura zog ihren schwarzen Lederrock hoch, klappte die Klobrille runter und setzte sich. Sie schloss die Augen und wusste auf einmal nicht mehr, ob sie sich noch dazu aufraffen könnte, sich nachher von Landzaat ins Schlafzimmer führen zu lassen. Sie stand auf, betätigte die Spülung und betrachtete wieder ihr rotes, fleckiges Gesicht im Spiegel. Sie sehnte sich schmerzlich nach Unbeholfenheit, nach Jungen wie Erik – wie Herman.

Als sie den Hahn aufdrehte und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, sah sie, dass ihr ein Haar ins Waschbecken gefallen war. Ein langes schwarzes Haar. Mit den Fingern schob sie es zum Rand und hob es hoch.

Sie wollte es gerade in den Eimer werfen, überlegte es sich aber anders. Oder eigentlich war es nichts weniger als eine Eingebung, eine geniale Idee geradezu. War Frau Landzaat nicht blond?

Laura sah sich im Badezimmer um. An einem Haken an der Tür hingen zwei Bademäntel; wahrscheinlich hatte Frau Landzaat es zu umständlich gefunden, ihren für eine Woche mitzunehmen. Wenn Jan Landzaat hier zu Hause minderjährige Schülerinnen empfing, nette Mädchen, die ihn anschwärmten, dann würde er der minderjährigen Schülerin nach den Spielchen unter der Dusche den Bademantel seiner Frau reichen, um ihn ihr im Schlafzimmer wieder auszuziehen.

Laura konnte sich erst nicht zwischen der Tasche und dem Kragen entscheiden, platzierte aber schließlich das Haar unter den Kragen. Irgendwann würde Frau Landzaat den Kragen ihres Bademantels hochschlagen und das Haar entdecken. Nachdenklich würde sie die Stirn runzeln.

»Laura? Ist alles in Ordnung?«

Seine Stimme im Gang; wie lange war sie schon hier drinnen? Sie ging zum Waschbecken und drehte den Hahn wieder auf.

»Ich komme«, sagte sie. »Ich bin gleich da.«

Und dann, während sie ihr Haar nach hinten strich und sich im Spiegel anlächelte, hatte sie wieder eine Idee – eine Idee, die womöglich noch genialer war als die erste.

Sie hatte sich nicht geschminkt, aber die Ohrringe anbehalten, kleine Ohrringe, zwei glänzende rauchfarbene Perlen, die ihr die Mutter vor ein paar Monaten als Belohnung für ihre guten Noten geschenkt hatte.

Sie nahm einen Ohrring ab, bückte sich und legte ihn hinter die Kloschüssel. Dann steckte sie sich den Finger in den Hals.

»Laura?«, rief Jan Landzaat hinter der Tür. »Laura?«

»Ich fühle mich nicht so wohl«, sagte sie, als sie schließlich die Tür öffnete. »Ich glaube, es wäre besser, wenn ich jetzt gehe.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.