Seekrank in München by Helgason Hallgrimur; Wetzig Karl-Ludwig

Seekrank in München by Helgason Hallgrimur; Wetzig Karl-Ludwig

Autor:Helgason, Hallgrimur; Wetzig, Karl-Ludwig [Helgason, Hallgrimur; Wetzig, Karl-Ludwig]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Tropen
veröffentlicht: 2015-10-24T16:00:00+00:00


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München leuchtet

Am Samstagmorgen tauchte auf einmal die Vermieterin wieder auf, Jung hörte, wie sie im Korridor hin und her ging und in der Küche Schränke und Schubladen öffnete. Er lugte aus seiner Tür und begrüßte sie, hatte sie zwei Wochen nicht gesehen. Sie antwortete hastig, war offenbar in Eile, sagte etwas von Siemens und Samstagen, Arbeiten, Winter und Island, fragte, ob bei ihm alles in Ordnung sei, was er bejahte, obwohl er nicht alles verstand, was sie sagte, und schon war sie wieder verschwunden, in einer warmen Winterjacke und mit einer kleinen Tasche, als wäre sie zu einer Tour in die Alpen aufgebrochen.

Er hatte die Wohnung noch mehr für sich als vorher. Er hatte praktisch kein Zimmer, sondern eine ganze Wohnung gemietet. Glück gehabt! Er genoss es, herumzuspazieren, ging ins Wohnzimmer, inspizierte die Bücher in den Regalen, Thomas Mann, Mann, Mann, und die Schallplatten im Schrank, Mozart, Beethoven, Mozart, Brahms, aber nichts, was ihn interessiert hätte, und so kehrte er zu dem deutschen Buch über Duchamp zurück. Er war an einem etwas zähen Kapitel angekommen, in dem sich ein französischer Spezialist über Duchamps Hauptthema ausließ, das er grob umschreiben konnte als »die einsame, verzweifelte und absolut unheilbare Geilheit des Mannes«.

Derartiges als junger Mann allein in der Fremde zu lesen war natürlich genau so, als würde sich ein Krebskranker einen medizinischen Wälzer über die zunehmende Bedeutung der Krebserkrankungen in der abendländischen Geschichte der Krankheiten zu Gemüte führen. Am allerwenigsten half das, und so stand der junge Mann immer wieder auf und erwischte sich dabei, wie er mit erhobenem Glied nackt im Badezimmer stand. Sein jahrelanges Unbeweibtsein hatte zur Folge, dass es ihn aufgeilte, nackt durch die leere Wohnung und vor allem an den Fenstern mit den halb durchsichtigen Gardinen vorbeizuspazieren, als wollte er Sex mit der ganzen Welt, wenn sie ihm schon keine Frau gab.

Nackt ins Wohnzimmer zu gehen war riskant und brachte ihm eine Spannung, die zu noch größerer Steifheit seines Schwanzes führte, der ohnehin schon kurz vor dem Explodieren stand. Die Raumtemperatur war ähnlich der in Island, aber wo der Teppich endete, fühlte sich der Fußboden kalt an, und auch von den großen Fenstern kam ein erregend kühler Luftzug. Lautlos tänzelte er um den kleinen Tisch wie ein Modern-Dance-Jünger und hielt sich im Sichtschutz der halb aufgezogenen Vorhänge. Ob er wohl von draußen zu sehen wäre, wenn er sich vor den nur von weißen Gardinen verdeckten Mittelteil des Fensters stellte? Wahrscheinlich nicht, aber genau konnte man es nicht wissen. Die Wohnung lag in der ersten Etage, vor dem Fenster befand sich ein Balkon, die Schmalseite der Brüstung war verglast. Wäre es einem wachsamen Passanten auf der Straße vielleicht möglich, ihn von schräg unten durch Glas, Fensterscheibe und Gardinen zu sehen? Vielleicht war er sogar von einer Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu beobachten?

Er sah sein blasses Spiegelbild im Glas über dem Druck von Friedrich dem Großen mit der Flöte, sah seinen Bauch, sah sich selbst nackt bis zur Hüfte hinter dem Vorhang, der von der großen Bühne der Welt gezogen war, einer Welt, die ihn nun fast nackt sehen konnte.



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