Schroders Schweigen by Gaige Amity

Schroders Schweigen by Gaige Amity

Autor:Gaige, Amity [Gaige, Amity]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2013-02-15T23:00:00+00:00


THEORIE DES SCHWEIGENS

Mir fällt auf, dass ich hier in diesem Schriftstück im Grunde kaum auf meine wissenschaftliche Arbeit eingegangen bin. Ich möchte den künftigen Zuhörer nicht mit allzu abwegigen Themen belasten, doch mir scheint, wenn ich nicht auf mein Forschungsprojekt eingehe, könnte das so missverstanden werden, als wenn es mir irgendwie peinlich wäre, oder? Und wenn man bedenkt, dass ich heute beim Aufwachen das gestrige Geständnis schon wieder bedaure und nun praktisch handlungsunfähig bin vor Bitterkeit, dass mir a) bei dem Gedanken an dich ganz warm ums Herz wurde, Laura, und b) ich das anschließend durch die Niederschrift unsterblich gemacht habe, finde ich, dass es an der Zeit wäre, das Thema zu wechseln. Schließlich ist mein Publikum bunt gemischt. Ich habe die gesetzliche Pflicht, mich in meiner ganzen Menschlichkeit darzustellen. Zu meiner eigenen Verteidigung. Andere möchten vielleicht wissen, welchen gesellschaftlichen Beitrag ich geleistet habe. Was war mir wichtig?

Gesprächspausen, die sind mir wichtig. Um genau zu sein, ich sammle Pausen. Damals, 1990, direkt nach meinem Abschluss in Mune, nach dem Studium einer Vielzahl der bedeutendsten Momente in der Geschichte der Menschheit, kam mir der Gedanke, ob es nicht vielleicht cool wäre, all jene literarischen, kulturellen, politischen Momente zu sammeln, in denen etwas nicht gesagt oder nicht getan worden war. Zögern, Stillstand, Flauten, Ellipsen. Nichtaktivitäten aller Art. Ich nannte mein Projekt »Pausologie: Eine experimentelle Enzyklopädie«. Das Vorhaben ergab sich aus meinem langjährigen Interesse am Begriff der »Ereignislosigkeit« (d.h. Momente in der Geschichte, in denen nichts passiert ist, wodurch eine signifikante Nichtsignifikanz erzeugt wurde).

Zunächst glaubte ich, meine wissenschaftliche Arbeit sei bahnbrechend. Ich war im Begriff, Antigeschichte zu schreiben. Geschichte im Negativ. Dann ging mir auf, was auf der Hand lag, nämlich, dass das Material, das ich zu sammeln beabsichtigte, gänzlich undokumentiert war. Eines Sommers heuerte ich über meinen alten Professor in Mune einen Assistenten an, und wir verbrachten den Großteil des Sommers allein damit, auszutüfteln, wie man überhaupt anfangen soll. Nachdem Meadow auf die Welt gekommen war, musste ich meine Ambitionen zurückstellen und mir eingestehen, dass meine Enzyklopädie nie auch nur ansatzweise »vollständig« sein würde. Und irgendwann, beim Sichten der Versatzstücke der verheißungsvollen Kapitelchen und Indizes, da dachte ich, na ja, das könnte einen ganz interessanten Bildband geben. Ich weiß auch nicht. Immer wieder fragten mich die Leute: »Und, wie läuft’s mit deinem Buch? Kommst du voran mit deinem Buch?« In Wahrheit hatte ich schon viel zu vielen Leuten davon erzählt, um noch damit aufhören zu können.8

Bei all seinen brillanten Werken liebte der Dramatiker und inoffizielle Pausologiker Harold Pinter jene Momente, in denen die Figuren nicht sprechen, weswegen wir heute lauter Stücke voller quälender oder »bedeutungsschwangerer« Gesprächspausen haben. Auch wenn Pinter sich später von seinen berühmten Pausen distanzierte, baute er mit Begeisterung 140 in Betrogen und in Die Heimkehr 224 davon ein, die, wenn textgetreu auf die Bühne gebracht, zu einigen satirisch langen, zuschauerfeindlichen Inszenierungen führen, die den schlechten Uni-Theatergruppen dieser Welt noch für Jahrzehnte genug Stoff liefern werden. Ich möchte hier eine Verbindung ziehen zwischen dramatischen Gesprächspausen und ehelichen Gesprächspausen. Sowohl dramatische



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