Schriften zur Literatur 1945-1958 by Hans Blumenberg
Autor:Hans Blumenberg
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2017-02-26T16:00:00+00:00
Ernst Jünger – ein Fazit
Zu seinem 60. Geburtstag am 29. März 1955
Vielleicht muß in einem Zeitalter, dessen Größe wie Gefährdung auf Erfahrungserkenntnis zurückgehen, der Metaphysiker im Gewande des Empirikers auftreten. Spekulation, einst die höchste Auszeichnung der Geister, genießt kein Zutrauen mehr; die exakte Beschreibung legitimiert allein die Erkenntnis. Diese Einsicht ist bei und durch Ernst Jünger zuweilen Manier geworden, ja, sie ist in die Nähe des magischen Rezeptes gekommen. Dem »Höchstmaß von deskriptiver Genauigkeit« lässt er schon im umstrittensten Werk, dem »Arbeiter«, eine »Präzision des Stiles« entsprechen, »in der zum Ausdruck kommt, daß sich hinter dem Anspruch, geistige Arbeit zu leisten, mehr als eine Redensart verbirgt« (1932). Die letzte, über manche Zwischenstufe erreichte Konsequenz, die sich von hier aus ergibt, ist die Forderung nach einer »neuen Theologie«, und zwar einer solchen, die »beschreibenden Charakter« hat (1938).
Nach einem derartigen Anspruch wird man genauer wissen wollen, was Jünger unter Beschreibung versteht. Sein Werk ist voll von Mustern des »beschreibenden« Vorganges, zumeist aus dem zoologischen oder botanischen Bereich. Der Blick ist auf die Oberfläche, nicht auf Struktur oder Funktion, gerichtet; er geht sogleich auf das Detail, auf das ästhetische Elementarquantum sozusagen, und präpariert es mit einer Schärfe heraus, die auf Öffnung und Durchdringung, nicht auf Bewahrung abzielt. Jüngers Sehen geht von dem Verdacht aus, daß das Sichtbare nur die vorgeschützte Hülle von Wesentlicherem ist. Das ergibt die Ungeduld seines Stils, die stets im Begriff steht, von der Erscheinung zur Idee abzuspringen. Unter Jüngers Blick werden die Dinge eigentümlich instabil, sie vibrieren vor Bereitschaft, ihr individuelles Dasein an einen allgemeinen und großen Sinn preiszugeben. »Das Mikroskopische des Blickes und seiner Ziele dehnt den Erdball ins Riesenhafte aus« (1948). Die verschwenderische Ausstattung mit Details sublimster Art im Werke Jüngers darf nicht darüber täuschen, wohin das Auge gerichtet ist. 193»Ein Felsenstück mit seinen Kräutern, Flechten und Moosen wächst sich zum Universum aus.«
Jünger ist Platoniker. Er erinnert uns daran, daß die neuzeitliche Erfahrungswissenschaft nicht aus dem realitätsfreudigen Aristotelismus, sondern aus dem erscheinungsflüchtigen Platonismus hervorgegangen ist. Diesen verblüffend widerspruchsvollen Vorgang wiederholt Jünger in umgekehrter Richtung. Schon das: die Vorliebe für das »so …«, mit dem er sich aus der realen in die ideale Sphäre schwingt; die Häufigkeit zurückverweisender Fürwörter, »jenes …«, die an eine verborgene Erinnerung in uns appellieren, eben die platonische Anamnesis; das massivere »Dies erinnert an …« schließlich, mit dem der Leser zum »Übertritt auf andere Stufen« gemahnt wird. Die erste Sprosse der Leiter ist überall, ein glühender Zinkofen aus ganz unansehnlichem Metall in der Schilfhütte am Westwall (1940) kann es ebenso sein wie die Hieroglyphe auf einem Insektenflügel – »denn alle diese Wesen sind ja nur flüchtige Schemen, sind Scheidemünze, die mit vollen Händen dem Staube zugeschleudert wird, und dennoch trägt eine jede das Wappen und das Abbild des Souveräns« (1947).
Der Platoniker nimmt die Erscheinung nur als Symptom; darin liegt der Unterschied zwischen Beschreibung und Physiognomik. Der Beschreibende läßt die Sache »zu Wort kommen«, der Physiognomiker will wissen, »woran er ist«. Die Frage nach dem Heil läßt ihn nie los. Und das ist der Punkt,
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