Schloss aus Glas by Jeanette Walls

Schloss aus Glas by Jeanette Walls

Autor:Jeanette Walls
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Diana Verlag
veröffentlicht: 2012-04-25T21:56:29+00:00


IV

NEW YORK

Es dämmerte schon, als ich in der ferne, hinter einer Hügelkette, zum ersten Mal New York erahnen konnte. Ich sah nicht mehr als die Spitzen und die eckigen Dächer von Gebäuden. Und dann waren wir oben auf dem Kamm, und ich erblickte auf der anderen Seite eines breiten Flusses eine große Insel, auf der sich dicht an dicht Wolkenkratzer drängten, deren Scheiben in der untergehenden Sonne wie Feuer glühten.

Mein Herz raste, und meine Hände wurden feucht. Ich ging durch den Gang zur Toilette hinten im Bus und machte mich an dem Metallwaschbecken frisch. Ich inspizierte mein Gesicht im Spiegel und fragte mich, was die New Yorker wohl denken würden, wenn sie mich ansahen. Würden sie eine Landpomeranze sehen, ein großes, linkisches Mädchen, klapperdürr, mit vorstehenden Zähnen? Seit Jahren sagte Dad zu mir, ich hätte eine innere Schönheit. Die meisten Leute sahen die nicht. Auch ich hatte Mühe, sie zu sehen, aber Dad behauptete, er könnte sie ganz deutlich sehen, und das allein zählte. Und ich hoffte, wenn die New Yorker mich anblickten, würden sie das Gleiche sehen wie Dad, was immer das auch war.

Als der Bus am Busbahnhof hielt, holte ich meinen Koffer und ging ins Bahnhofsgebäude hinein. Ich stand in einem Strom vorbeihastender Menschen, sodass ich mir vorkam wie ein Stein in einem rauschenden Bach, und dann hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Es war ein blasser Typ mit einer dicken schwarzen Brille, die seine Augen winzig wirken ließen. Er hieß Evan, und er war ein Freund von Lori. Sie musste arbeiten und hatte ihn gebeten, mich abzuholen. Evan bot an, meinen Koffer zu tragen, und ging mit mir hinaus auf die Straße, wo ein einziges lärmendes Chaos herrschte. Menschentrauben warteten dicht gedrängt an Fußgängerampeln, Autos stauten sich, und überall flog Papier herum. Ich folgte ihm mitten hinein.

An der ersten Querstraße setzte Evan meinen Koffer ab.

»Ganz schön schwer«, sagte er. »Was hast du denn da drin?«

»Meine Kohlensammlung.«

Er blickte mich verständnislos an.

»War nur ein Scherz«, sagte ich und gab ihm einen Stups gegen die Schulter. Evan schaltete nicht gerade schnell, aber das fasste ich als gutes Zeichen auf. Es gab keinen Grund, automatisch vor dem Witz und dem Intellekt dieser New Yorker in Ehrfurcht zu erstarren.

Ich nahm meinen Koffer. Evan bestand nicht darauf, dass ich ihn ihm zurückgab. Ja, er wirkte geradezu erleichtert, dass ich mich nun damit abschleppte. Wir gingen weiter, und er warf mir andauernd Seitenblicke zu.

»Ihr Mädchen aus West Virginia seid ganz schön zäh«, sagte

er.

»Das hast du richtig erkannt«, erwiderte ich.

Evan brachte mich zu einem deutschen Restaurant namens Zum Zum. Lori stand hinter der Theke, vier Bierkrüge in jeder Hand, die Haare zu zwei Knoten gebunden, und sprach mit einem starken deutschen Akzent, weil ihr das, wie sie mir später erklärte, mehr Trinkgeld einbrachte. Sie stellte mich den Männern an einem der Tische als ihre Schwester vor, und sie hoben ihre Bierkrüge und prosteten mir zu.

Da ich kein Wort Deutsch konnte, sagte ich: »Grazi!«

Sie lachten. Lori hatte erst die Hälfte ihrer Schicht hinter sich, also schaute ich mir ein wenig die Gegend an.



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