Sadisten by Lydia Benecke
Autor:Lydia Benecke [BENECKE, LYDIA]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2015-01-14T16:00:00+00:00
Sie haben eine Grippe und Sadomasochismus
Verrückt zu sein,
ist im Widerspruch zur Mehrheit zu sein.
(Ambrose Gwinnett Bierce)
Dass eigentlich harmlose sexuelle Neigungen offiziell als psychische Störungen eingestuft wurden – und teilweise immer noch werden –, hängt offensichtlich eng mit ihrer gesellschaftlichen Bewertung zusammen. So geht der deutsche Psychologe Peter Fiedler in seinem Standardwerk »Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung« (2004) davon aus, dass die negative gesellschaftliche Bewertung sexueller Vorlieben erhebliche Auswirkungen darauf hat, ob die dahinterstehende Neigung als krank angesehen wird oder nicht. Fiedlers Argument sollte jedem vernünftigen Menschen einleuchten: Sieht die Gesellschaft bestimmte sexuelle Vorlieben als abartig an, beeinflusst dies auch Wissenschaftler dahingehend, dass sie diese Vorlieben eher als krankheitswertig einschätzen. Umgekehrt verstärkt die offizielle Einstufung einer sexuellen Neigung als krankhafte Störung die negative gesellschaftliche Bewertung dieser Neigung. Es entsteht also ein sich selbst stabilisierender Kreislauf. Wie schwierig der Ausbruch aus diesem Teufelskreis ist, beschreibt Fiedler am Beispiel der Homosexualität. Diese wurde nach langen und intensiven Kämpfen der Homosexuellenbewegung erst vor relativ kurzer Zeit – nämlich 1992 – komplett aus den international verwendeten Diagnosesystemen gestrichen.
Seit Krafft-Ebing – also seit bald 130 Jahren – wird »Sadomasochismus« in der Gesellschaft und auch noch in vielen wissenschaftlichen Schriften als krankhaft eingeordnet. Selbst im Jahr 2014 (und wohl auch noch in naher Zukunft) könnten Therapeuten, die sich nicht gut mit Sexualwissenschaften auskennen, die BDSM-Neigung in Deutschland (und weltweit) unter bestimmten Bedingungen offiziell als psychische Störung einstufen. Genauer gesagt, könnten sie die Neigung als »Störung der Sexualpräferenz« betrachten. Die Einstufung, was eine medizinische Störung ist und was nicht, erfolgt in Deutschland seit dem Jahr 2000 mithilfe des bereits genannten ICD-10-Krankheitenkatalogs, der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird. Selbst in der neuesten für Deutschland herausgegebenen Version, der ICD-10-GM 2015, wird im Abschnitt »Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen« (F60–F69), zu dem der Unterabschnitt »Störungen der Sexualpräferenz« (F65.-) gehört, unter dem Kürzel F65.5 voraussichtlich noch immer der Begriff »Sadomasochismus« aufgeführt sein. Die Definition von »Sadomasochismus« dort lautet: »Es werden sexuelle Aktivitäten mit Zufügung von Schmerzen, Erniedrigung oder Fesseln bevorzugt. Wenn die betroffene Person diese Art der Stimulation erleidet, handelt es sich um Masochismus; wenn sie sie jemand anderem zufügt, um Sadismus. Oft empfindet die betroffene Person sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexuelle Erregung.«
Als krankhaft wird diese Neigung, dem ICD-10 folgend, aber nur angesehen, wenn eine betroffene Person mehrere bestimmte Bedingungen erfüllt. Diese Bedingungen lauten:
Entsprechende sexuelle Impulse und Fantasien …
– müssen wiederholt auftretend und intensiv sein.
– müssen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten vorhanden sein.
Der oder die Betroffene …
– lebt diese Bedürfnisse in seinem tatsächlichen Sexualleben aus
– ODER fühlt sich durch die Fantasien und Impulse deutlich beeinträchtigt.
Die sadomasochistische Aktivität ist …
– die wichtigste Quelle sexueller Erregung
– ODER notwendig für sexuelle Befriedigung.
Wie absurd diese Kriterien sein können, wird deutlich, wenn man sie nur einmal probeweise auf Homosexualität anwendet. Ein Homosexueller hat sein ganzes Leben lang wiederholt auftretende, intensive sexuelle Impulse und Fantasien homosexuellen Inhalts. Die meisten Homosexuellen in westlichen Kulturen leben ihre Neigung heutzutage irgendwann in ihrem tatsächlichen Sexualleben aus. Und natürlich ist die homosexuelle Aktivität für einen Homosexuellen die wichtigste Quelle sexueller Erregung.
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