Rot wie das Vergessen by Dawn Sasha

Rot wie das Vergessen by Dawn Sasha

Autor:Dawn, Sasha [Dawn, Sasha]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
veröffentlicht: 2015-08-20T16:00:00+00:00


ACHTZEHN

Es ist kurz nach neun Uhr morgens. Der Gottesdienst fängt zwar erst in einer knappen Stunde an, aber das Kirchenschiff unter mir füllt sich bereits mit Gemeindemitgliedern. Es ist der Jahrestag von Hannah Rynes’ Verschwinden. Auf einer Staffelei neben der Meditationsecke steht ein Foto von ihr, groß wie ein Poster, auf dem sie in etwa so aussieht, wie ich sie in Erinnerung habe. Kerzen brennen zu ihrem Gedenken.

Nirgendwo ist ein Hinweis auf den Mann zu entdecken, der sie womöglich entführt hat. Wahrscheinlich aus Rücksicht auf Hannahs Familie. Allerdings haben sich viele in der Gemeinde von Palmer einwickeln lassen und sind überzeugt, dass mein Vater genauso Opfer eines Verbrechens wurde wie Hannah. Sie glauben, dass er ihre Entführung beobachtet hat und versucht hat, sie zu befreien.

Wenn sie den Mann im weißen Priestergewand so erlebt hätten wie ich, würden sie anders denken.

Ich gehe die Empore entlang. Die Tür zur Pfarrwohnung steht einen Spalt offen. Ich schlüpfe hindurch und schleiche auf Zehenspitzen quer durch den Vorraum, an den sich das Zimmer anschließt, das mein Vater Beichtzimmer nannte.

In der Karmel-Schule gehe ich regelmäßig zur Beichte – das ist ein fester Bestandteil des Religionsunterrichts –, daher weiß ich inzwischen, dass Palmers »Beichtzimmer« alles andere als ein geschützter Ort war, wo man seine Sünden mit Gott bespricht. Es war eine Folterkammer und die von ihm gewählte Bezeichnung ist nur ein weiterer Beweis für seinen kranken Geist. Bei jedem Schritt, den ich der Tür näher komme, glaube ich, meine Mutter wieder schreien zu hören.

Mir ist übel, meine Fingerspitzen kribbeln warnend. Dabei ist mir rein verstandesmäßig klar, dass hinter der Tür nicht mein Vater lauert, sondern sein Vertreter, der sich gerade auf die Predigt vorbereitet. Ich bleibe stehen und atme tief ein. Hängt der Geruch von Palmers Rasierwasser etwa in der Luft? Es roch nach Kiefernharz, nach immergrünem Wald.

Als ich nichts rieche, gehe ich weiter.

Schon der Vorraum hat sich sehr verändert. Die dicken, dunkelblau und dunkelgrün gestreiften, mit Goldkordeln gerafften Vorhänge sind durch leichtere Schlaufenvorhänge aus beigefarbenem Kordsamt ersetzt worden. Ein Beweis dafür, dass die Welt sich auch ohne Palmers Einfluss weiterdreht. Ein Beweis dafür, dass die Dinge um mich herum vorwärtsgehen und dass auch ich nicht mein Leben lang in der Vergangenheit verharren kann. Aber das wird sich hoffentlich bald ändern, vielleicht sogar schon heute.

Ein kurzer Blick in das Beichtzimmer, dessen Tür von einem Holzkeil offen gehalten wird, bestätigt meine Vermutung: Andrew Drake sitzt am Schreibtisch. Ich trete ein und schließe die Tür mit einem Knall hinter mir.

Andrew Drake hebt den Blick vom Schreibtisch meines Vaters, der jetzt seiner ist. Sein Mund öffnet sich zu einem erstaunten O. Er ist ein gut aussehender Mann, aber ich finde ihn nicht anziehend. Das fand ich noch nie. Was wir miteinander erlebt haben, ist mir peinlich und er ist wohl auch nicht besonders stolz darauf, denn er wird rot. Das Mädchen, das ich heute bin, hätte sich niemals mit ihm eingelassen, aber das Mädchen, das ich früher war, hat sich keine Gedanken über richtig und falsch gemacht. Es hat sich nur verzweifelt nach Geborgenheit und Verständnis gesehnt.



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