Richter Ahnungslos • Wie ich unfreiwillig Schöffe wurde und was ich dabei über Recht und Unrecht gelernt habe by Marc Baumann
Autor:Marc Baumann [Baumann, Marc]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644535114
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-04-24T16:00:00+00:00
Gerichtsreportage: Endspiel
Es gibt Münchner, die sagen, den 19. Mai 2012 habe es nie gegeben. Am 18. Mai sind sie abends ins Bett gegangen, und als sie aufgewacht sind am nächsten Morgen, war der 20. Mai. Und dazwischen war nix. Und falls da vielleicht doch noch ein Tag dazwischen war, dann können sie sich nicht mehr daran erinnern. Denn am 19. Mai 2012 hat der FC Bayern das Finale der Champions League im eigenen Stadion gegen den FC Chelsea verloren. Einen Abend hat die Stadt geweint, zwei Tage gejammert, dann noch ein paar Tage geschmollt, dann wurde der 19. aus den Kalendern geschnitten, und gut war’s. Nur in Stadelheim, im Untersuchungsgefängnis, saßen vier Männer, für die der 19. Mai nie aufgehört hat, für die er fünf lange Monate gedauert hat, bis zu diesem Vormittag ihrer Verhandlung. Die Männer sind Moldawier, die in Athen gelebt haben und zum Endspiel nach München gereist sind. Einfache Fußballfans, wie sie sagen, keine Diebe, wie man ihnen unterstellt, sie hätten doch sogar Eintrittskarten bei sich gehabt. Stimmt, laut Asservatenkammer vier Tickets, dazu 800 Euro und 70 britische Pfund in Bargeld. «Die hohen Bargeldbeträge sind kennzeichnend für Taschendiebe», sagt der Staatsanwalt. Bei der Feststellung der Personalien geben die Männer bis auf einen an, dass sie Familie haben, Frauen und Kinder. Sie haben in Griechenland als Handwerker gearbeitet, weil es in Moldawien keine Jobs gab. «Wie bitter muss das Leben in Moldawien sein, dass einem Athen mitten in der tiefsten Eurokrise als Verbesserung vorkommt?», fragt ein Prozessteilnehmer später. Seit fünf Monaten haben die Angeklagten ihre Kinder nicht mehr gesehen, fünf Monate konnten sie kein Geld in die Heimat schicken. Die Anklage stützt sich auf die Aussage eines auf Taschendiebstahl spezialisierten Polizisten, der im Saal sitzt und ein Überwachungsvideo mitgebracht hat. Der erste und zweite Versuch, das Video auf dem Fernseher abzuspielen, scheitert, gemeinsam rätseln Polizist, Richter, ein Schöffe und der Verteidiger, wie man das Scart-Kabel richtig am Bildschirm anschließen muss. Dann – «Ahhhh! Jetzt! Na also!» – erscheint ein unscharfes Überwachungsvideo. Man sieht die vermeintlichen Täter am Bahnsteig einer stark befahrenen Haltestelle. «Klassisches Täterverhalten», beschreibt der Experte, «erst wird ein leichtes Opfer identifiziert am Bahnsteig, dann rasches Zusteigen der Gruppe an zwei Türen desselben Abteils.» Verteidiger, Schöffen, Richter, Staatsanwalt und die vier Angeklagten stehen um den Röhrenfernseher. Die vier Moldawier stehen etwas weiter hinten, blicken kopfschüttelnd das grobpixelige Video an, einer von ihnen macht eine Geste, die man übersetzen würde mit: «Was soll man da denn bitte sehen?» Ihr Anwalt spricht aus, was die vier denken: «Entschuldigung, ich erkenne da keine Tat, nur ein volles U-Bahn-Abteil.» Tatsächlich überfordert einen als Laie beim ersten Ansehen das Gewimmel im Zug. Doch der Polizist der Taschendiebstahlbekämpfungsabteilung spult zum entscheidenden Moment zurück und versucht mit vielen Standbildern aufzuzeigen, was ihm als Fachmann eindeutig erscheint. «Da, sehen Sie? Das Opfer wird umzingelt, Körperkontakt wird hergestellt, und schon ist es passiert.» Es ist, als würde einem der FC-Bayern-Trainer die lange einstudierten Spielzüge seiner Mannschaft erklären. Seine Beschreibungen klingen schlüssig, und doch erkenne ich nicht den Griff in die Jackentasche.
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