Rhetorik der Verunsicherung by Marcel Humar

Rhetorik der Verunsicherung by Marcel Humar

Autor:Marcel Humar
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2016-02-15T00:00:00+00:00


4.3Zusammenfassung

Die emotionalen Zustände der Dialogteilnehmer, mit denen der Leser konfrontiert wird, konvergieren mit der Schilderung der Dialogsituation, dem Charakter bzw. der Charakterzeichnung der an ihr beteiligten Figuren und der Relevanz des Themas. Die oben angeführten Partien aus dem Lysis und dem Charmides zeigen, dass eine einfache Widerlegung vorgebrachter Thesen nicht zwangsläufig auch Verunsicherung erzeugt, da die Vertreter dieser Thesen weder die Situation als agonal auffassen, noch dem Thema eine gewichtige Relevanz beimessen und ferner auch nicht ihr Selbstbild von der Widerlegung dieser Ansicht tangiert wird; sind diese Faktoren gegeben, wird Verunsicherung erzeugt. So zeigen die in Kapitel 3 besprochenen Ausschnitte immer einen Bezug zu einem der oben genannten Faktoren: Den Rhapsoden Ion verunsichert Sokrates mit Blick auf dessen Selbstbild und seinem Verständnis der Rhapsodenkunst; Ion kann keine Erklärung seiner Fähigkeiten geben. Zu Beginn des Dialogs wurde seiner Tätigkeit der Status einer τέχνη zugeschrieben. Diese Kategorisierung kann von ihm nicht verteidigt werden. Hier liegt das große Verunsicherungspotenzial: Sokrates muss Ion, der seiner Kunst einen unhaltbaren Status zugeschrieben hatte, den Gegenstand seiner Tätigkeit erklären und die Zusammenhänge aufzeigen; dies verunsichert den Rhapsoden in Bezug auf sein eigenes Geschäft. Im Hippias minor verunsichert Sokrates den Sophisten Hippias gleich zweierlei. Erstens widerlegt er zusammen mit ihm eine These, die der Sophist so nicht aufgestellt hatte; er scheitert an seinem Anspruch über dieses Thema genau Bescheid zu wissen. Angewendet auf den Beruf des Sophisten wird das Bild des sophistischen Lehrers erschüttert, da derjenige der die Wahrheit sagt auch immer in der Lage ist, zu lügen. Somit ist ein kompetenter Lehrer gleichzeitig auch der beste Lügner. Angesichts der Tatsache, dass weitere Anwesende – potentielle Schüler – dem Gespräch folgen, wird das Verunsicherungspotenzial noch erhöht. Diese beiden Strategien haben Parallelen zu anderen Dialogen: Im Laches nimmt Nikias ebenfalls einen Aspekt in seine Definition auf, der ihm aufgedrängt wurde, den er selbst jedoch nicht hinreichend durchdacht hat. In einem Rückverweis auf diesen kann er nicht mehr angeben, wie er diesen Aspekt in seiner Definition verstanden haben will. Der Ankläger des Sokrates, der junge Meletos, wird vor Gericht von Sokrates dadurch verunsichert, dass er das Selbstbild des Anklägers und die Begründung seiner Anklage hinterfragt. Es stellt sich heraus, dass Meletos weder seine eigene Rolle noch die Fundierung seiner Anklage durchdacht hat; vor allem unter ständigem Einbezug der Richter gelingt es Sokrates, den jungen Ankläger zu verunsichern.



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