Revisionen des Mythos by Clemens Heydenreich

Revisionen des Mythos by Clemens Heydenreich

Autor:Clemens Heydenreich
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2015-02-15T00:00:00+00:00


O schöne Zeit! Wo sich zu grünen / Triumphespforten zu wölben schienen / Die Bäume des Waldes – ich ging einher, / Bekränzt, als ob ich ein Sieger wär! // Die schöne Zeit, sie ist verschlendert, / und alles hat sich seitdem verändert, / und ach! Mir ist der Kranz geraubt, / Den ich getragen auf meinem Haupt. // Der Kranz ist mir vom Haupt genommen, / Ich weiß es nicht, wie es gekommen.337

Der geraubte Poetenkranz ist das zentrale Motiv des Gedichts Waldeinsamkeit. Die oben zitierte Klage des Sprecher-Ichs über dessen Verlust greift eine Klage des Mannes aus Uz in Hiob 19,9 auf („Er hat mir mein Ehrenkleid ausgezogen und die Krone von meinem Haupt genommen“) und variiert sie ins Autopoetologische. Gleiches gestaltet das Gedicht in toto mit einem an anderer Stelle im Hiobbuch (nämlich in 29/30) vorgeprägten Topos: mit dem des klagenden Vergleichs früheren Glücks und gegenwärtigen Unglücks. Wie Hiob fasst auch das Sprecher-Ich in Waldeinsamkeit das einstige Glück als eine Zeit hohen persönlichen Ansehens in einer sozialen Gemeinschaft, das Unglück aber als vollzogenen Ausschluss aus ebendieser Gemeinschaft. Doch tritt bei Heine an die Stelle des gefallenen Stadtfürsten338 der gefallene Fürst romantischer Dichtung: An Stelle der menschlichurbanen Gemeinschaft, in deren Verhaltenswandel sich Hiobs Rangverlust spiegelt, steht eine Gesellschaft aus romantischen Naturwesen, die den von ihnen einst Umschmeichelten nicht wieder erkennen.339

Interessant ist nun aber, dass Heine die in Hiob 30 geschilderte Glückssituation in zweierlei Hinsicht konträr zur Bibelvorlage travestiert. Zum einen, indem er nicht erst die beklagte Gegenwart als eine unfreiwillige, sondern bereits die gelobte Vergangenheit als eine freiwillige Exilsituation darstellt: Aus Hiobs einstiger Bewegung hinaus „zum Tor der Stadt“ (29,7) gen Marktplatz ist eine einstige Fluchtbewegung aus der Menschengemeinschaft geworden, durch die „Triumphespforten“ des Waldes hinein in eine heidnisch-pantheistische Parallelwelt, in der just jene Elementargeister und exilierten Götter hausten, die Heine in seinen gleichnamigen religionshistorischen Essays so benennt – und die sich um das Dichter-Ich als einen Schöpfer, einen Wahlverwandten und primus inter pares traulich versammelten. (Das gegenwärtige Unglück der Waldeinsamkeit ist insofern das einer gleich doppelten Unbehaustheit: Das der Vertreibung aus dem selbstgewählten Exil.) Und zum anderen travestiert und subvertiert Heine den Rückschau-Topos aus Hiob 30 in einer Weise, die sich in mehreren folgenden Lamentationen-Texten analog wieder finden wird:

Hiob führt – unter der Prämisse des Tun-Ergehen-Zusammenhangs – sein vergangenes Glück auch als Index gottesfürchtigen Handelns ins Feld, mithin als Beweis für die Unverdientheit des gegenwärtigen Leidens. Im Verbund mit der klagenden Frage nach dem Warum der offenbar von Gott verhängten Schicksalswende ergibt sich aus diesem Kontrast also eine Selbstrechtfertigung des Klagenden gegenüber Gott. Diametral umgekehrt in der Waldeinsamkeit: Sie setzt als Übergangsmoment zwischen den kontrastierenden Zeitstufen eben keine Schicksalswende, deren Gründe klagend zu hinterfragen wären, sondern eine Perspektivveränderung des Ich, nach deren Gründen zu fragen obsolet ist („ich weiß es nicht, wie es gekommen“) angesichts der – bei aller Wehmut – wünschenswert realitätsnäheren Wahrnehmung, zu der sie geführt hat. Der Kontrast zwischen vergangenem Glück und aktuellem Unglück ist hier der zwischen vergangener Einbildung und aktueller Klarsicht. Nicht mehr



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