Religion und Mythologie der Germanen (B011761F86) by Rudolf Simek
Autor:Rudolf Simek [Simek, Rudolf]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783806229554
Herausgeber: Theiss, Konrad
veröffentlicht: 2015-01-01T05:00:00+00:00
iörð fannz æva
né upphiminn („weder Erde gab es noch Himmel darüber“)
gap var ginnunga,
enn gras hvergi („eine gähnende Leere, aber kein Gewächs“)
Die stabreimende Formel der dritten Zeile findet sich auch schon im althochdeutschen Wessobrunner Gebet im 9. Jh. (ero ni uuas noh ûfhimil = „es gab weder Himmel noch Erde“), in Varianten (ohne den Verweis auf die Leere) u.a. aber auch im altsächsischen Heliand und im altenglischen Andreas (beide 9. Jh.), auf dem schwedischen Runenstein von Skarpåker (11. Jh.: Iǫrð skal rifna ok upphiminn) und auf dem mittelalterlichen dänischen Runenstab von Ribe1 sowie in einigen jüngeren Eddaliedern. Alle diese Beispiele, auch die christlichen, sind im Kontext von Schöpfung oder Weltuntergang zu finden, sodass trotz der Nähe der einleitenden Formel zur biblischen Aussage terra … erat … vacua (Genesis 1,2) diese Auffassung von der Leere des Himmels und der Erde durchaus auf eine heidnische Formel zurückgehen dürfte.
Die andere Variante (Codex Regius, Hauksbók) jedoch der ersten Zeile dieser Strophe liest Ár var alda, þat er Ymir byggði („Urzeit war, da Ymir hauste“), und diesen Riesen Ymir als Urwesen postuliert nicht nur der Verfasser dieses Eddalieds, sondern auch die Vafþrúðnismál 21 und die Grímnismál 40 kennen – wenn sie auch deutlich jünger sind als die Vǫluspá – in eng verwandten Strophen einen Mythus von der Weltschöpfung aus dem Körper des Ymir. Dass alle Riesen von Ymir abstammen, erzählt allerdings erst die sehr junge Hyndluljóð 33, aber dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die heidnische Kosmogonie eben alles Geschaffene von Ymir herleitete.
Eine ganz abweichende Form der Weltschöpfung findet sich in der Vǫluspá 4,1 (Aðr Burs synir biǫðom um ypo), in welcher die Erde aus dem Wasser gehoben wird und so entsteht; auch diese Trennung von Erde und Wasser weist natürlich Anklänge an biblische Motive auf, steht aber in den germanischen Quellen ganz allein da und hatte wohl kaum größere Verbreitung.2 Unsere Kenntnis der heidnischen Kosmogonie beruht für die Zeit vor Snorri – der gerade hier offenbar sehr intensiv auf christliches und antikes Gedankengut zurückgriff, in erster Linie auf den mythologischen Eddaliedern, während die Skaldendichtung hier recht unergiebig ist. Problematisch daran ist, dass auch die ältesten Eddalieder hier von christlichem Synkretismus beeinflusst scheinen, eine Tendenz, die wohl auf den Mangel einer systematischen Kosmogonie innerhalb der heidnisch-germanischen Religion zurückzuführen ist. Es ist somit besser, von der Vorstellung eines derartigen kompletten Gedankengebäudes Abschied zu nehmen und nicht wie Snorri zu versuchen, die einzelnen erhaltenen Mytheme um jeden Preis miteinander zu verbinden. Die einzelnen im Folgenden vorgestellten Mythen sollten daher wie unzusammenhängende Bausteine betrachtet werden, die zweifellos eine Rolle im heidnisch-germanischen Weltbild gespielt haben, aber deren genaue Relation zueinander wir nicht kennen, falls in vorchristlicher Zeit überhaupt das Bedürfnis bestanden hat, solche Verbindungen zu etablieren.
Selbst die gut belegte Weltschöpfung aus dem Riesen Ymir – aus dessen Körper die Erde, aus dessen Knochen die Berge, aus seinem Schädel der Himmel und aus seinem Schweiß das Meer gebildet wurden (Vafþrúðnismál 21und Grímnismál 40) – wirkt schon stark von christlichem Gedankengut beeinflusst. Diese beiden Eddalieder sind wohl nicht vor dem 12. Jh.
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