Reisende auf einem Bein by Mueller Herta
Autor:Mueller, Herta [Mueller, Herta]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-05T05:00:00+00:00
Irene begleitete Franz zum Bahnhof.
Auf den Schienen stehende Züge. Senfgrün waren die Strümpfe. Blau der Rucksack des Mädchens. Von ihren Kopfhörern riß sich Musik los. Schwergeschminkte Augenlider. Die Augen offen und groß und starr, als streiften sie nie ein Bild.
Über dem Bahnsteig drehte sich eine Kugel. Die war von innen durchleuchtet.
Zwei Frauen sprachen miteinander. Hoben beim Sprechen die Hände zwischen ihre Gesichter. Ihre Hände ähnelten sich. Waren nur an den Ringen und an der Farbe des Nagellacks voneinander zu unterscheiden. Dann rückten die Hände die Koffer näher. Die Lippen standen offen und sagten nichts.
Ein Paar schwarzer Lackschuhe glänzte. Widerspiegelte nichts als ein Paar weißer Socken.
Neben dem Zug trippelte eine Taube. Sie trug den Kopf so steif, daß Irene nicht wußte, ob es Hochmut oder eine Krankheit war, was sie quälte.
Wo keine Züge standen, hatten die Schienen Schwellungen vom Licht. Balken dazwischen. Zwischen den Balken gemahlene Steine. Zigarettenkippen.
Die Taube hing über dem stehenden Zug in der Luft. Irene sah ein Zahnrad hinter ihrem Schnabel.
Wenn Irene jetzt hätte sagen müssen, was sie empfand, wäre kein einziger Satz richtig gewesen. Nicht einmal Silben, die willkürlich zusammenfanden.
Aus der Kugel, die sich drehte, sagte eine Frauenstimme Züge an.
Schöne Lippen, hoch oben, dachte Irene, sagen den Zug an für Zwerge.
Das Mädchen mit den senfgrünen Strümpfen stieg in den Zug. Ihre Beine waren schwerer als der Rucksack.
Es war schön mit dir, hatte Franz gesagt.
Irene hatte nichts hinzugefügt. Daß es schön war, hatte ihr weh getan. Daß es schön war und es dabei geblieben war.
Irene ging zurück ins Hotel.
Sie knipste alle Lichter im Zimmer an. Sie schaltete den Fernseher ein und ging ins Bad. Sie wusch ihr Höschen und ihre Strumpfhose. Sie hängte das Höschen auf die Stuhllehne und die Strumpfhose auf einen Kleiderbügel an die Schranktür.
Über den Bildschirm zog eine Kleinstadt.
Die Bewohner der Kleinstadt waren Pendler. Der Weg zum Bahnhof führte durch den Weinberg.
In den Dämmerstunden der Abende gingen die jungen Frauen, die aus der Großstadt kamen, vom Bahnhof durch den Weinberg nach Hause.
Acht Frauen waren auf dem Weinberg vergewaltigt worden.
Die Täter: zwei Männer.
Der Sprecher nannte ihre Vornamen. Er zeigte ein Messer. Damit waren die Frauen genötigt worden.
Der Sprecher nannte eine Zahl. Das war der Kopflohn.
Auf dem Bildschirm standen zwei Phantombilder.
Selbst wenn Irene die Täter gekannt hätte, wäre es für sie wegen des Kopflohns unmöglich gewesen, den Opfern gerecht zu werden.
Was Irene mehr schmerzte als die Tat, war das Vertrauen in den Weinberg. Das war für die Täter und für die Opfer maßlos gewesen.
Im Zimmer war die Luft alt. Älter als die Möbel. Irene öffnete das Fenster.
Jetzt, wo Irene sich hinauslehnte, hatte sie den Namen des Hotels vergessen. Auch den Namen des Flusses, der durch diese Stadt floß. Und den Namen der Brücke, die über den Fluß führte.
KALTES LAND KALTE HERZEN RUF DOCH MAL AN JENS. Und eine Telefonnummer.
Es war ein Graffiti an der Hauswand, hoch über den Bäumen. Die Schrift war zerronnen. Buchstaben mit Fingern. Passanten gingen über den Platz, spürten, ohne die Köpfe zu heben, den Hauch dieser Schrift. Sie steckten beim Gehen ein paar Schritte lang die Hände in die Taschen.
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