Reichskanzlerplatz by Bossong Nora

Autor:Bossong, Nora [Bossong, Nora]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Adolf Hitler
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2024-08-12T00:00:00+00:00

IV

Im Mai untersagte Magdas Ehemann den Juden, über den Kurfürstendamm zu flanieren, und im Sommer wurde Ernst Röhm ermordet. Auch einige von Vaters ehemaligen Kameraden richteten sie hin, zuerst Hitlers Amtsvorgänger General von Schleicher und einen Tag später Generalmajor von Bredow. Hitler erklärte, verantwortlich zu sein für das Schicksal der deutschen Nation. Er sprach von Geschwüren und Brunnenvergiftung und vom sicheren Tod für alle, die die Hand gegen den Staat erhoben. Sie säuberten das Militär, wie sie vorher die Straßen, die Gewerkschaften, die Radiostationen gesäubert hatten, und über Röhm wurde ausgekippt, was man im letzten Jahr noch in der linken Presse über ihn gelesen hatte, über den, wie sie ihn nannten, perversen Lüstling, die Schwuchtel.

Vaters Gesundheit verschlechterte sich in diesem Sommer. Jeden Sonntag wenn ich zu Besuch kam, humpelte er stärker, und er konnte nicht mehr in die Knie gehen, aber zum Arzt wollte er nicht, erst dort werde man überhaupt krank. Mitte Juli schickte ich Magda Blumen wie jedes Jahr. Es hatte nichts mit uns zu tun, nur Pritzwalk war eben zu weit.

Als im August Hindenburg starb, wurde aus Adolf Hitler der Führer, und Reichswehrminister Blomberg schickte noch am selben Tag eine Weisung an alle Soldaten, einen Eid auf Hitler abzulegen. Nicht mehr treu und redlich dienten die Soldaten nun, sondern mit unbedingtem Gehorsam dem Führer, der größer als Gott und das Gewissen über ihnen stand.

Jetzt gehen sie zu weit, sagte Vater. Damit werden sie nicht durchkommen.

Ich wagte nicht, ihm zu sagen, dass es niemanden mehr gab, der sich ihnen in den Weg stellen konnte.

Was ist das noch für eine Armee?, fragte er und erklärte, das Haus nicht mehr zu verlassen, er wollte keinem Soldaten auf der Straße begegnen.

Und wie lange willst du das so halten?, fragte Mutter. Du glaubst doch nicht, dass in einer Woche alles wieder beim Alten ist.

Die Sonne fiel auf den Esstisch, und die in der Wohnung angestaute Hitze schien meine Eltern schrumpfen zu lassen. Nie zuvor waren sie mir so klein und gebeugt vorgekommen wie an diesem Nachmittag, so hilflos, und ich fühlte, dass sie mich nicht mehr vor dem bewahren konnten, was da draußen vor sich ging, sondern dass vielmehr ich sie davor beschützen musste. Ich wusste nur nicht, ob ich die Kraft dazu besaß.

Ob ich allmählich ans Heiraten dächte, fragte er mich, in seiner Stimme eine väterliche Sorge, vielleicht lag auch schon Resignation darin. Gern hätte ich ihm etwas erwidert, einen Namen, einen Monat, wenigstens die Geschichte einer unglücklich Verheirateten, aber die einzige Frau, der ich je nahe gekommen war, hatte sich in ein Bild der Wochenschau verwandelt.

Liebe kann man nicht erzwingen, sagte Mutter, als mein Schweigen peinlich wurde.

Vater nickte vor sich hin, seine Hände kraftlos auf dem Tisch, schwer und behaart und mit dem Ehering, der leicht in die Haut schnitt, und ich stand auf, um eines der Fenster zu öffnen.

Ich hätte gern noch ein Stück Torte, erklärte er.

An diesem Nachmittag streifte ich ziellos durch die Straßen. Ich dachte an Kranz, Taube und Stein, die nun unter dem Führereid dienten, und machte mir Vorwürfe, ohne so recht zu wissen, wofür.

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