Rainer Maria Rilke by Alfred Schütze
Autor:Alfred Schütze [Schütze, Alfred]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Urachhaus
veröffentlicht: 2016-11-29T23:00:00+00:00
Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger … Überzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen.
Wenn vieles oder vielleicht alles von den Dichtungen Rilkes einmal wird vergessen und verloren sein − dieses Wort wird gewiss weiterleben: »Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag? Erde, du liebe, ich will.«
In diesen Worten ruht verborgen eine ganze Philosophie. Wir sind zum Glück nicht genötigt, die umfassende Lebensanschauung, die zusammengedrängt in den obigen lapidaren Versen schlummert, interpretieren zu müssen − mancher nur-ästhetische Rilke-Verehrer würde meinen, es sei hineingelegt und unterschoben: Rilke selber hat, sofern man nicht schon aus den vorangegangenen Zitaten seine erkenntnismäßige Einstellung dazu ersehen konnte, eine überraschend denkerisch klare Deutung in einem Brief gegeben. Er spricht dort davon, wie die Dinge unseres Umgangs nur Vorläufigkeiten seien, aber doch die Mitwisser unserer Not und Freude.
»So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlechtzumachen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ›unsichtbar‹ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.«59
Diesen Anschauungen liegt eine Weltauffassung zugrunde, die den Menschen nicht zum untätigen Zuschauer der Welterscheinungen macht, sondern ihm eine schöpferische Tätigkeit zuschreibt, die notwendig zum Weltganzen gehört, weil durch sie erst die Vollständigkeit des Daseins erreicht wird. Diese Fähigkeit ist, in einem umfassenden und tiefen Sinn gemeint, das menschliche Erkenntnisvermögen. Darunter dürfen wir gewiss nicht das abstrakte Vorstellen verstehen, das nur einen Abklatsch der äußeren Welterscheinungen, eine Wiederholung dessen, was auch sonst erfassbar ist, darstellt. Sondern es ist die großartige Fähigkeit des menschlichen Geistes, die vergängliche und nur ihre Außenseite uns darbietende Welt der Erscheinungen in ihrer wahren Wirklichkeit zu erfahren. Wer sich mit der bloß durch die äußeren Sinne erfahrbaren Hälfte der Welt begnügt, gleicht einem Menschen, der etwa im Faust nur eine vielfach variierte Anordnung der 25 oder 26 Buchstaben des Alphabets sehen würde. Die Anordnung dieser Buchstaben bedeutet etwas Höheres, über sie selbst Hinausweisendes!
So gilt es auch im Alphabet der Natur, der Erde und des Kosmos, das Buchstabieren zu lernen, um die Sprache und den Sinn dieser Weltbuchstaben und Weltenworte zu erfassen. Der Menschengeist vermag in die scheinbar verborgenen Tiefen des äußeren Daseins einzudringen. Da beginnt das Irdische, das uns oft eine so unscheinbare Außenseite zeigt, in seiner inneren Lichtgestalt aufzuleuchten. Der Schleier, in den alles materielle Dasein eingehüllt erscheint, kann vom Geist des Menschen gelüftet werden, und es erscheint in göttlicher Glorie der geistige Urgrund aller Dinge. Wohin der Geist blickt, entzaubert er den übersinnlich leuchtenden Wesensgehalt, der in die Verkleidung des Materiellen hineingebannt ist und darum unseren Erdenaugen nur verdunkelt erscheinen kann.
Aber die irdisch-sichtbare Welt ist nicht nur wie verzaubert, sondern sie unterliegt auch dem Wechsel und der Vergänglichkeit. Eine Pflanze macht beispielsweise zahllose Veränderungen auf ihrem Entwicklungsgang vom Samen zur Blüte und Frucht durch. Ihr wahres, überdauerndes Wesen ergibt sich nicht aus der bloßen Betrachtung; es bleibt unsichtbar und kann nur im Geist des Menschen gefunden werden.
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