Räume der Gewalt by Jörg Baberowski
Autor:Jörg Baberowski [Baberowski, Jörg]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104010854
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-09-06T22:00:00+00:00
Ordnung und Gewalt
Wie aber kommt es überhaupt, dass Menschen unter manchen Umständen gewalttätig werden, unter anderen aber auf Gewalt verzichten? Darauf hat Thomas Hobbes eine Antwort gegeben, auf die sich die »Anthropologen« der Gewalt Jahrhunderte später beriefen. In seiner 1651 erschienenen Abhandlung »Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates« schrieb er:
»Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen – das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der (…) aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume zu halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag. (…) Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlasst, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.«[300]
Was der Philosoph vor nunmehr 350 Jahren auf nüchterne Formeln brachte, kleidet der Soziologe Wolfgang Sofsky in eine schaurige Sprache, die den Leser spüren lassen soll, dass die Welt ein Jammertal und die Gewalt das Schicksal der Gattung ist. Auswege scheint es nicht zu geben. »Als alle Menschen frei und gleich waren, war niemand vor dem anderen sicher. Das Leben war kurz, die Angst grenzenlos. Kein Gesetz bewahrte vor Übergriffen. Jeder misstraute jedem, und jeder musste sich vor dem anderen schützen. Denn noch der Schwächste war stark genug, den Stärksten zu verletzen, zu töten, durch eine Hinterlist oder eine Absprache mit einem Dritten. So schlossen die Menschen einen Bund zur gemeinsamen Sicherheit.«[301] Mit diesen Worten beginnt Sofskys »Traktat über die Gewalt«. Wer hatte jemals zuvor auf solche Weise und mit solchen Worten über Gewalt gesprochen? Die Gewalt als Schicksal der Gattung, als Grundausstattung des Menschen, der nur vorgibt, friedlich zu sein, weil er sich vor Strafe und Vergeltung fürchtet! In Wahrheit aber schlössen Freiheit und Frieden einander aus. Menschen unterwürfen sich dem Tötungstabu nur, weil Mächtigere sie daran hinderten, einander zu verletzen. Nicht die Verhältnisse verderben die Menschen, sondern die Menschen die Verhältnisse, wenn sie dürfen, was sie wollen. Aber sie wissen um sich und ihresgleichen, und deshalb unterwerfen sie sich Machtverhältnissen, die sie vor sich und ihren Leidenschaften schützen. Das Rätsel der Macht löst sich auf, wenn man verstanden hat, dass die schlimmste Diktatur mehr Sicherheit verspricht als die grenzenlose Freiheit.[302] Sozialität ist erst möglich, wenn Menschen ihre Unantastbarkeit vertraglich vereinbaren und auf Gewalt verzichten. Ohne die Zentralisierung und Monopolisierung der Gewalt, ohne die dauerhafte Zähmung der Leidenschaften wird es keinen Frieden und keine Gesellschaft geben.[303]
Sofskys Menschenbild ist dunkel, er glaubt weder an das Licht der Aufklärung noch an den Prozess der Zivilisation.
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