Place de l'Etoile by Patrick Modiano
Autor:Patrick Modiano [Modiano, Patrick]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-11-23T00:00:00+00:00
IV
Wien. Die letzten Trambahnen glitten durch die Nacht. In der Mariahilfer Straße spürten wir, wie Angst in uns hochstieg. Ein paar Schritte noch, und wir würden auf der Place de la Concorde sein. Die Metro nehmen, den beruhigenden Rosenkranz herunterbeten: Tuileries, Palais-Royal, Louvre, Châtelet. Unsere Mutter erwartete uns am Quai Conti. Wir würden Lindenblüten-Pfefferminztee trinken und die Schatten beobachten, die der Vergnügungsdampfer an die Wände unseres Zimmers warf. Nie zuvor hatten wir Paris und Frankreich so sehr geliebt. In einer Januarnacht wankte der jüdische Maler, unser Vetter, in Richtung Montparnasse und flüsterte während seiner Agonie: »Cara, cara Italia.« Der Zufall hatte ihn in Livorno zur Welt kommen lassen, es hätte auch in Paris sein können, in London, in Warschau, egal wo. Wir waren in Boulogne-sur-Seine zur Welt gekommen, Île-de-France. Weit von hier, die Tuilerien. Palais-Royal. Louvre. Châtelet. Die köstliche Madame de La Fayette. Choderlos de Laclos. Benjamin Constant. Der gute Stendhal. Das Schicksal hatte uns einen üblen Streich gespielt. Wir würden unser Land nie wiedersehen. Auf der Mariahilfer Straße krepieren, in Wien, Österreich, wie herrenlose Hunde. Niemand konnte uns schützen. Unsere Mutter war tot oder verrückt. Die Adresse unseres Vaters in New York kannten wir nicht. Auch nicht die von Maurice Sachs. Auch nicht die von Adrien Debigorre. Und was Charles Lévy-Vendôme anging, sinnlos, sich ihm wieder in Erinnerung bringen zu wollen. Tania Arcisewska war tot, weil sie unsere Ratschläge befolgt hatte. Des Essarts war tot. Loïtia gewöhnte sich wohl langsam, aber sicher an die exotischen Bordelle. Die Gesichter, die durch unser Leben gingen – wir machten uns nicht die Mühe, sie zu umfangen, festzuhalten, zu lieben. Unfähig zur kleinsten Geste.
Wir kamen in den Burggarten und setzten uns auf eine Bank. Plötzlich hörten wir das Klopfen eines Holzbeins, das über den Boden stapfte. Ein Mann näherte sich uns, ein abscheulicher Krüppel … Seine Augen phosphoreszierten, Stirnlocke und Bärtchen glänzten in der Dunkelheit. Der zu einem Grinsen verzerrte Mund beschleunigte unseren Herzschlag. Sein linker Arm, den er uns entgegenstreckte, endete in einem Haken. Wir hatten schon geahnt, dass wir ihm in Wien begegnen würden. Unvermeidlich. Er trug die Uniform eines österreichischen Gefreiten, um uns noch mehr zu erschrecken. Er drohte uns, brüllte: »Sechs Millionen Juden! Sechs Millionen Juden!« Sein schallendes Gelächter bohrte sich uns in die Brust. Er versuchte uns mit seinem Haken die Augen auszukratzen. Wir rannten davon. Er verfolgte uns, immer weiter brüllend: »Sechs Millionen Juden! Sechs Millionen Juden!« Lange hetzten wir durch eine tote Stadt, eine Stadt wie Ys, ans Ufer gespült mitsamt ihren erloschenen alten Palais. Hofburg. Palais Kinsky. Palais Lobkowitz. Palais Pallavicini. Palais Porcia. Palais Wilczek … Hinter uns sang Captain Hook mit krächzender Stimme Hitlerleute und hämmerte mit seinem Holzbein den Takt aufs Pflaster. Wir hatten das Gefühl, die einzigen Menschen in der Stadt zu sein. Nachdem er uns umgebracht hatte, lief unser Feind durch diese öden Straßen wie ein Gespenst, bis an Ende der Zeiten.
Von den Lichtern am Graben bekomme ich einen klaren Kopf. Drei amerikanische Touristen überzeugen mich, dass Hitler seit langem tot ist.
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