Paris: Roman einer Stadt (German Edition) by Rutherfurd Edward
Autor:Rutherfurd, Edward [Rutherfurd, Edward]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Karl Blessing Verlag
veröffentlicht: 2014-10-26T23:00:00+00:00
Kapitel XlV
1903
Einige Jahre waren vergangen, seit Adeline Monsieur Ney kurz nach dem Tod von Édiths Mutter vorgeschlagen hatte, dass Édith und ihr Ehemann Thomas Gascon mit ihren Kindern in das große Haus einziehen sollten. »Die Arthritis in meiner Hand erschwert mir die Arbeit etwas, Monsieur«, hatte Adeline erklärt, »sodass ich wirklich mehr Hilfe von Édith bräuchte. Sie immer auf Abruf hierzuhaben, wäre wesentlich besser.«
»Aber wo sollten sie wohnen?«
»Im Dachgeschoss gibt es drei oder vier ungenutzte Räume. Thomas ist handwerklich begabt. Er würde sie kostenfrei für Sie renovieren.«
Dieses Arrangement kam allen zugute. Édith arbeitete weiterhin für denselben Lohn, wohnte jedoch mietfrei. Thomas hatte seine eigene Arbeit, übernahm allerdings gern kleinere handwerkliche Aufgaben, die öfter anfielen. »Wenn sie die Bewohner nicht stören, werden die Kinder dem Haus eine familiäre Atmosphäre verleihen«, hatte Monsieur Ney verkündet.
Édith hatte das Gefühl, dass Monsieur Ney mit den Jahren weicher geworden war. Sie hatte inzwischen vier Kinder: Robert, der älteste; Anaïs; ein zweiter Junge, Pierre, fünf Jahre alt und die kleine Monique, das Baby der Familie. Und da er selbst keine Enkel hatte, war der förmliche alte Anwalt zu einer großväterlichen Figur für ihre Kinder geworden, der ihnen gelegentlich Schokolade, Süßigkeiten und kleine Geschenke mitbrachte.
Denn Hortense hatte noch immer nicht geheiratet. Um die Jahrhundertwende hatte sie ihrem Vater mitgeteilt, ihr Arzt hätte angeordnet, dass sie ihre Winter in wärmerem Klima verbringen sollte und lebte seitdem meist in Monte Carlo.
Das Porträt, das Marc Blanchard von Hortense angefertigt hatte, hatte jedoch einen Ehrenplatz im Eingangsbereich erhalten. Obwohl er ursprünglich vorgehabt hatte, dass es sein eigenes Haus schmücken sollte, war er so stolz auf das Bild, dass ihm lediglich die prächtige Architektur des Eingangsbereiches mit seinem vornehmen Treppenhaus würdig erschien.
Im Laufe der Jahre sahen Thomas Gascon und seine Familie die seltsame alte Villa als ihr Zuhause an.
Es war ein kalter Märztag, als Monsieur Ney mit selbstzufriedener Miene bei ihnen eintraf. Nachdem er einige Bonbons an die Kinder verteilt hatte, rief er Édith und Tante Adeline zu sich, um ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.
»Ich bin ein paar alte Papiere durchgegangen und habe einen überraschenden Fund gemacht. Wissen Sie, wie alt Mademoiselle Bac ist?«
»Über neunzig, schätze ich«, riet Tante Adeline.
»Sie wird diesen Sommer hundert. Ich habe den Beweis in meinen Papieren.«
»Das ist ein Tribut, Monsieur, an die Sorgfalt, die Sie ihr stets haben zuteil werden lassen«, sagte Adeline.
»In der Tat. Und das sollten wir feiern. Mademoiselle Bac soll teilnehmen, selbst wenn sie sich des Grundes nicht bewusst ist.«
»Sie sind so gütig, Monsieur.«
»Es geht um viel mehr als das. Haben Sie sich einmal überlegt, welch positiven Eindruck dies in der Öffentlichkeit hinterlassen wird? Nur wenige Heime können mit einem Bewohner solch hohen Alters aufwarten. Wir werden in die Zeitung kommen. Das beste Etablissement dieser Art in Paris.«
Édith hatte ihn noch nie so aufgekratzt erlebt.
»Werden Sie es Mademoiselle Bac sagen?«, fragte sie.
»Ich glaube, das werde ich. Und zwar augenblicklich – selbst wenn sie es nicht versteht.« Mit diesen Worten eilte er hinaus.
Sie bekamen ihn eine halbe Stunde lang nicht zu Gesicht.
Es war Édith, die ihn fand.
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