Orfanelle by Franz Winter
Autor:Franz Winter
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Braumuller
veröffentlicht: 2012-01-29T05:00:00+00:00
VENEDIG
Riva degli Schiavoni
Ospedale della Pietà
Anna stopfte die gefilzte Decke des Bootes dichter um ihre Schenkel, sie zog ihr Kaschmirplaid fester um die Schultern und versuchte, durch die aufgezogene Jalousie der mit gewachstem schwarzen Leinen überdeckten Felze ihrer Gondel dem kaum wahrnehmbaren Schein einer im undurchdringlichen Bleigrau aufschimmernden Fackel den Umriss einer Säule, die Ecke irgendeines ihr bekannten Hauses zu entreißen, was ihr unmöglich war. Unentrinnbar schien sie in der kalten Welt der Todesschatten gefangen, in der nur der ersehnte, kaum zu erwartende Ruderstoß des Gondoliere auf eine Bewegung hoffen ließ.
Sie wusste nicht, wo sie war. Schon im Hafenbecken von San Marco? Oder hatten sie den Rio San Moisè noch gar nicht verlassen, ging es gar nicht an der Piazzetta vorbei? Warum sah sie kein Licht in der Bibliothek des Sansovin? Der Palast des Dogen – dunkel? Hatte die Pest gewütet in ihrer sechsmonatigen Abwesenheit und alle dahingerafft? Venedig – tot? Wurde sie nach San Michele verschifft, zur Toteninsel? War Charon ihr Fährmann? Sie hatte nicht in sein Gesicht gesehen, als sie, von der Reise erschöpft und fröstelnd, in die schwarzen Kissen gesunken war.
„Zur Pietà“, hatte sie gesagt.
„Zur Pietà, ich weiß, Signorina Girò, zur Pietà …“
Woher kannte er ihren Namen? Wusste er, dass ihre Mutter und Paolina nach Venedig gezogen waren und zusammen mit ihr am Corte del’Alboro unweit des Teatro Sant’Angelo eine Wohnung bezogen hatten? Aber sie hatte sie doch mit ihrem Gepäck in einer anderen Gondel vorausgeschickt! Hatte er das beobachtet? Warum kannte er ihren Namen? Warum konnte sie das ölige Glucksen seines eintauchenden Ruderblattes nicht hören? Warum hatte sich in ihrem Gehirn die fahle Flötenkadenz über den sterbenden Akkorden von Don Antonios „Der Schlaf“ festgesetzt? Sie musste an Cattina dal Flauto denken, für die Don Antonio das Nacht-Konzert geschrieben hatte, jenes hoch aufgeschossene weißblonde Mädchen, das sie wegen seiner ausgehungerten Knochigkeit „das Tödlein“ nennen: Nennen? Genannt haben? Pelegrina! – Die Pietà! – Die Pest! – Gütiger Gott, Gott im Himmel, lass nicht … Es ist ein Traum, ein böser Traum …
„Wir sind da, Maestra Girò!“
Sie riss die steifen rückwärtigen Vorhänge ihrer Kabine auseinander. „Wo sind wir?“
„Wir sind angekommen, am Ufer der Pietà, Signorina Primadonna!“
„Ich sehe nichts!“
„Niemand sieht etwas in diesem Nebel, Signorina Girò!“
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Ich habe Sie mehrmals im Theater gesehen und gehört, Maestra. Aber warum wollen Sie zur Pietà zurück? Ihnen gehört doch die Welt!“
„Die Liebe treibt mich in die Pietà zurück, Gondoliere! Wie ist dein Name? Oder heißt du Charon?“
„Mein Name tut nichts zur Sache, Maestra, aber ich heiße Giuseppe, wie mein Vater, der auch Gondoliere ist.“
„Giuseppe! Aber ich sehe die Pietà nicht, Giuseppe!“
„In dieser Nacht sieht niemand die Pietà. Niemand sieht irgendetwas in Venedig in dieser Nacht, Maestra! Aber wenn Sie Ihre rechte Hand ausstrecken und unter die Bank greifen, finden Sie eine Laterne, und wenn Sie mir diese geben, werde ich sie entzünden und Sie hinübergeleiten zur Pietà.“
„Hinübergeleiten?“
„Hinüber, über die glitschigen Steine der Riva degli Schiavoni zur Pforte der Pietà, Maestra, wenn Sie es denn so wollen.“
Anna ertastete die eiserne Laterne und
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