Orangentage by Iva Procházková

Autor:Iva Procházková [Procházková, Iva]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783411809790
Herausgeber: FISCHER Sauerländer
veröffentlicht: 2012-01-31T23:00:00+00:00

***

Es wird dunkel. Wir stehen vor dem Kuhstall mit der Aufschrift LPG FORTSCHRITT: Hanka, Mischa und ich. Ich werde bald elf, bin immer noch ziemlich klein, Hanka ist einen halben Kopf größer. Der Oktober geht zu Ende, aus den Schornsteinen in Piosek steigt Rauch auf. Der Wind zerrt an dem Drachen wie an dem Stalltor, das halb aus den Angeln hängt.

»Der hat einen Haufen Geld gekostet«, sagt Hanka. »Vater trifft der Schlag.«

»Red keinen Quatsch, vielleicht merkt er es gar nicht«, wendet Mischa ein.

»Spinnst du?«, erwidert Hanka. »Du weißt doch, wie er auf sein Spielzeug aufpasst.«

»Wir holen ihn herunter«, sage ich.

Der schimmernde Drachenkörper zuckt hilflos. Ein gefangener Phönix, verheddert in der Leitung. Superphönix D3F. Ein professioneller Drachen für fortgeschrittene Piloten. Ein Zeitvertreib für Manager.

»Warum hast du den nur genommen?«, wirft Mischa Hanka vor. »Vater hat es doch verboten!«

»Wolltest du etwa nicht ausprobieren, wie er fliegt?«

Mischa schweigt. Natürlich wollte er es ausprobieren. So wie ich. Doch die Verantwortung trägt Hanka – sie hat den teuren Drachen heimlich aus der Garage herausgeschmuggelt.

»Wir holen ihn herunter«, wiederhole ich, diesmal lauter, damit sie mich endlich beachten.

»Wie denn?«

»Ich steige aufs Dach.«

Hanka misst mit ihrem Blick den Abstand zwischen mir und dem Dach des Kuhstalls ab. Sie glaubt nicht, dass ich es schaffe. Ihre Zweifel verletzen und motivieren mich zugleich.

»Ich weiß, wo eine Leiter ist«, sage ich. »Wir lehnen sie von hinten gegen das Gebäude. Bestimmt reicht sie bis zum Dachsims. Von da aus kann ich den Drachen locker herunterholen.«

»Du fasst in die Leitung rein und holst ihn, nicht wahr?«, fragt Hanka. Sie spricht mit mir wie mit einem Dreikäsehoch, der nicht weiß, was elektrischer Strom ist.

»Es ist eine alte Leitung«, erkläre ich. »Da ist lange kein Saft mehr drauf.«

»Woher willst du das wissen?«

»Vater hat es gesagt. Außerdem habe ich Augen im Kopf. Ich erkenne tote Leitungen. Dort an dem Mast endet sie – man hat sie gekappt. Wozu wäre sie hier noch nütze?« Ich trete gegen die feuchte Stallmauer, ein Stück Putz fällt ab. »Das ist eine Bruchbude! Wer soll hier noch Licht anmachen?«

Hanka wendet nichts mehr ein. Ich habe sie überzeugt. Schnell holen wir die Leiter von drinnen und lehnen sie gegen die hintere Wand des Kuhstalls. Ein blechernes Geräusch ist zu hören, als das obere Ende der Leiter das Gesims berührt. Sehen kann man es kaum, dafür ist es schon zu dunkel. Auf der Straße sind die Laternen schon längst angegangen, bis hierher reicht ihr Licht aber nicht.

»Komm, wir holen ihn besser morgen«, schlägt Mischa vor. Er hat am wenigsten Abenteuerlust von uns dreien. »Du wirst dich doch wegen eines blöden Drachens nicht umbringen!«

»Warum sollte ich mich umbringen?«

»Man sieht ja nichts mehr.«

»Ich kann noch was sehen«, verkündet Hanka. »Ich kann ja hochklettern.«

Mischa lacht sie aus. »Du? Du stolperst doch auch zu Hause immer auf der Treppe!«

»Wann bin ich denn bitte gestolpert?«

Ich lasse sie diskutieren und beginne hochzusteigen. Es ist ein Kinderspiel. Außerdem kenne ich die Leiter, ich bin schon zigmal auf ihr hochgeklettert, als wir im alten Obstgarten hinter dem Kuhstall Schattenmorellen gepflückt haben. Bevor sie es merken, bin ich schon fast in der Mitte.

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