Ohne Ich kein Wir by Michael Pauen
Autor:Michael Pauen
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2012-03-26T16:00:00+00:00
Die Konformitätsexperimente von Asch
In dem Zusammenhang spielen natürlich auch die hormonellen Veränderungen in der Pubertät und die damit verbundene erhöhte Risikobereitschaft von jungen Männern eine Rolle. Doch ihre verhängnisvollen Konsequenzen entfaltet diese Risikobereitschaft deshalb, weil sich die jungen Männer vor den anderen Mitgliedern ihrer Cliquen beweisen müssen und durch entsprechenden Gruppendruck zu Taten gezwungen sehen, die sie sonst nicht begehen würden. Anpassung spielt hier die entscheidende Rolle. Wie wird sie konkret wirksam? Eines der ersten Experimente, die sich dieser Frage widmeten, stammt von Solomon Asch, einem ursprünglich aus Polen stammenden, äußerst einflussreichen amerikanischen Sozialpsychologen. Asch war unter anderem der Doktorvater Stanley Milgrams, auf dessen berühmtes Experiment wir weiter unten noch zu sprechen kommen.
Verglichen mit dem Hasenfußrennen oder dem S-Bahn-Surfen war Aschs Experiment recht harmlos – ich habe es im ersten Kapitel schon einmal kurz erwähnt:71 Stellen Sie sich vor, Sie kommen in einen Raum, in dem sechs bis acht Leute sitzen, alle in Ihrem Alter, offenbar Versuchsteilnehmer wie Sie. Man sagt Ihnen, es gehe um ein psychologisches Experiment zu Wahrnehmungsurteilen. Der Versuchsleiter zeigt Ihrer Gruppe zunächst eine Linie; anschließend werden drei weitere, unterschiedlich lange Linien präsentiert. Die Teilnehmer sollen nun sagen, welche Linie genauso lang ist wie die ursprünglich gezeigte. Einer antwortet nach dem anderen; die Aufgabe ist leicht, die richtige Antwort ist ganz offensichtlich. Jeder nennt die richtige Linie, und auch Sie selbst haben keinerlei Probleme mit der Lösung. Tatsächlich waren unter diesen Bedingungen mehr als 99 Prozent der Antworten zutreffend.
Beim zweiten und dritten Mal läuft es genauso, doch bei einem der späteren Durchgänge geschieht etwas Merkwürdiges: In diesem Falle ist die zweite Linie so lang wie die ursprünglich gezeigte; aber alle anderen Teilnehmer behaupten, die erste würde passen. Diese Antwort ist offensichtlich falsch – aber alle anderen zeigen sich einig. Wie kann das passieren? Und: Wie werden Sie antworten?
Was Sie nicht wissen: Die vermeintlichen anderen »Teilnehmer« sind in Wirklichkeit Mitarbeiter des Versuchsleiters. Und sie sind angewiesen, bei zwölf der achtzehn Aufgaben allesamt dieselbe falsche Antwort zu geben. Die einzige Versuchsperson sind Sie. Und: Natürlich gilt das Interesse des Versuchsleiters nicht der Genauigkeit Ihrer Wahrnehmungsurteile. Untersucht wird vielmehr, ob Sie sich in Ihrem Urteil durch die Gruppe beeinflussen lassen: Was passiert, wenn Sie plötzlich mit Ihrer Meinung alleine stehen – allein gegen die ganze Gruppe. Was werden Sie tun?
Legt man die Ergebnisse von Asch zugrunde, die mittlerweile vielfach bestätigt worden sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass Sie sich der Mehrheit anschließen werden. Vielleicht nicht beim ersten Durchgang, aber wenn sich die Situation wiederholt, werden Sie irgendwann einmal mit den anderen Teilnehmern übereinstimmen – nur ein Viertel der Versuchsteilnehmer tat dies nicht, und das obwohl die richtige Antwort offensichtlich war. Selbst als man die Unterschiede zwischen den Linien weiter vergrößerte, so dass sie schließlich bei mehr als siebzehn Zentimetern lagen, ließen sich Versuchspersonen noch von der Mehrheit der Teilnehmer in die Irre führen.
Denken Sie daran, dass hier niemand willentlich Druck ausgeübt hat; niemand hat Sie aufgefordert, mit der Mehrheit zu stimmen. Dennoch entsteht faktisch ein solcher Anpassungszwang – offenbar »wie von selbst«, ohne dass jemand ausdrücklich etwas unternehmen muss.
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