Offene See by Benjamin Myers
Autor:Benjamin Myers [Myers, Benjamin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832184964
Herausgeber: DUMONT Buchverlag
Inselmaniker
Kumulus
phosphoreszierend
Kodizill
Meniskus
Vellum
Harakiri
Arbutus
Grundsee
Plattitüde
Anoxie
Hypoxie
Saksamaa
Elbe
Seppuku
Bei diesen ersten nächtlichen Lesungen blieben mir viele der Gedichte rätselhaft, doch gerade ihre Rätselhaftigkeit weckte in mir den Wunsch, ihre Bedeutung zu verstehen. Während ich dasaß und die Flamme der Öllampe flackernde Schatten über die hellen Seiten warf, kam es mir so vor, als wäre ihre Autorin mit mir zusammen in der Hütte. Dass sie genau an diesem Ort ersonnen worden waren, begeisterte mich, und ich verstand zum ersten Mal, was es bedeutete, von einem Geist heimgesucht zu werden, denn je mehr ich las, desto mehr litt ich unter der Tatsache, dass sie nicht mehr lebte, unter dem Gefühl, dass diese Gedichte in Wahrheit Botschaften aus dem Totenreich waren, Sendschreiben von einem Ort tiefster Einsamkeit. Doch nicht nur das, sie waren Botschaften – sogar Appelle –, zurückgesandt an den Ort ihrer Entstehung. Hierher, wo ich saß, in einer Hütte, auf einer Wildwiese in Yorkshire.
Während mein ungeschulter, nicht sehr belesener Verstand sich durch die Sammlung arbeitete, wurde ihm eines zunehmend klar: Jedes Gedicht war so aufgebaut, dass Romy Landau auf ihre eigene Flucht hin schrieb, ihr eigenes Erlöschen. Es waren Totenklagen für sie selbst, Beschwörungen eines Auswegs.
Anfangs hatte ich geglaubt, sie befassten sich vordergründig mit einer Welt, die ich sofort wiedererkannte – mit den Landstraßen, dem Cottage, der Wildwiese und vor allem dem Meer –, nun jedoch trat all das in den Hintergrund und gab stattdessen den Blick frei auf einen komplexen Geist, der in die Finsternis einer ultimativen und grenzenlosen Verzweiflung sank. Das nackte und kompromisslose Grauen in den Anfangszeilen von »Entmutterung« traf mich wie ein Vorschlaghammer.
Ein Schoß harrt
Worauf?
Bloß auf ein
Kind;
eine Geburtsmaschine bist du
nicht.
Es war mitten in der Nacht, als ich alle Gedichte gelesen hatte und endlich erkannte, was mit Romy passiert war. Die Antwort war die ganze Zeit offensichtlich gewesen, in Dulcies Hass und Misstrauen dem Meer gegenüber und in der Jungfrauenkrone. Doch erst, als ich die Sammlung zum dritten, vierten und fünften Mal las, begriff ich endlich, ich, ein junger Bursche, der eher daran gewöhnt war, durchs Land zu wandern, mit den Händen zu arbeiten und davon zu träumen, welche großen Abenteuer die Zukunft nun, da der dunkle Schleier des Krieges gelüftet war, wohl für ihn bereithalten mochte.
Besonders ein Gedicht offenbarte die Wahrheit, das Gedicht, das heute am häufigsten in Anthologien auftaucht, das an Universitäten behandelt wird, das im Radio und auf Bühnen vorgetragen wird, das vertont und sogar in einen Gedenkstein gemeißelt wurde, der an einem Wanderweg im Herzen eines Waldes nahe der deutsch-österreichischen Grenze steht. Damals jedoch war es bloß ein vor der Welt geheim gehaltenes Gedicht, das nur von mir gelesen wurde, dem einfachen Sohn eines hart arbeitenden Bergmanns.
Exeunt (oder Weiße Pferde)
Ich verlasse dies Land
und geb mich goldenem Wasser hin.
Ich frage mich, wie tief
erstrecken sich die Sonnenfinger,
wie weit reicht die Kraft der
Trauergestalt auf dem Trauerstrand
und was erwartet sie,
die weiße Pferde reitet
und die dann gleitet
in schwankende Dunkelheit
an Korallenketten hinab zu zarten Wurzeln
und salzigen Betten,
wo entmenschtes Geheul
klingt wie Glockenspiele,
wo alles Rost und Schatten ist
und salzzerfressene Knochen.
Eine erloschene Sonne, ein entschwindender Strand.
Ein vollkommener Sog, der sie heimträgt.
Romy Landau hatte sich ertränkt.
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