Nur zur Ansicht (B0098I25D0) by Roger Willemsen

Nur zur Ansicht (B0098I25D0) by Roger Willemsen

Autor:Roger Willemsen [Willemsen, Roger]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104025476
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2012-09-12T04:00:00+00:00


Lewis im Wunderland. Über Lewis Carroll

Das Erzählen hat viele Anfänge, alle im Dunkel einer vorbegrifflich geschlossenen Welt. Es beginnt, wo sich aus dem »Jubilare sine voce«, dem Falsettgesang der Pygmäen in der Wüste, Formeln und Namen herauslösen; es beginnt, wo sich in den rituellen Beschwörungen des Dionysos-Kults einzelne epische Einheiten zur Erzählung emanzipieren; es beginnt in der Liturgie, wo die Heiligengestalten zwischen stereotypen Gebeten Attribute und Biographien erhalten; es beginnt in der scheinbar akausalen Logik des Traums, in der Wiederkunft und Rekonstruktion des Vergessenen, im Abstraktionszusammenhang zwischen den Piktogrammen der Höhlenmalerei; es beginnt in den Erzählungen der Kinder.

Seit den Anfängen der Völkerpsychologie bei Giambattista Vico werden die primigenen Völker mit den Kindern verglichen. Das ist mehr als eine Metapher, denn die Archetypen der Volkskunst besitzen nicht nur ästhetische Nähe zu den ersten Hervorbringungen der Kinder, sie spiegeln auch auf verwandtschaftliche Art eine Welt wider, die noch zu überlegen ist, als dass sie durch Begriffe gebannt und durch Erzählungen gegliedert werden könnte.

Überall bildet das Erzählen den Versuch ab, eine Ordnung zu begründen und das Diffuse, Amorphe, Chaotische, Simultane nicht nur zurückzudrängen, sondern es auch zu prägen, also das Unbeherrschbare zu beherrschen, das Asyntaktische der Wahrnehmung der Syntax der Sprache zu unterwerfen. Jeder verständliche Satz ist ein Triumph des Ordnungsgedankens über die Wirklichkeit, ein Sieg des Allgemeinwesens über die Monade des Individuums, und in jedem unverständlichen Satz lebt noch die Beunruhigung, die von der nicht unterworfenen Welt ausgeht.

»Alice im Wunderland« ist ein unverständliches Buch, daran soll man nicht rütteln. Unverständlichkeit ist seine Sprechform, aber durch diese teilt es eben etwas anderes mit als Texte, die ganz und gar begriffen werden wollen. So viele Möglichkeiten es auch geben mag, sich durch die Alogik der Empfindungen, Wahrnehmungen, kausalen Verdrehungen und Vertauschungen, durch die optischen Inversionen und Überblendungen hindurchzuinterpretieren, der Text blickt befremdet zurück und schützt seine Alice, die für nichts als sich selbst stehen möchte (und das ist ein Thema des Buches), und schützt seinen Autor, der zahlreiche Motive hatte, sich aus der Gemeinschaft seiner Mitmenschen hinaus- und in die kindliche reflektierte Welt von Mädchen, Tieren, Sachen und Kartenkönigen hineinzukatapultieren.

Alice will sich nur ungern verstehen lassen, jedenfalls wenn man unter ›Verstehen‹ den gelungenen Anschluss der individuellen Erfahrung an die des Kollektivs begreift. Denn so bedrohlich die unterirdische Welt auch manchmal erscheint, sie bleibt das eigentliche Habitat des kleinen Mädchens, ihr wahres Zuhause. Und auch Lewis Carroll will sich nicht verstehen lassen, mied er es doch stets, Objekt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu werden und in einem Akt des Erkennens eine Beschädigung und Bloßstellung seiner Innenwelt zu erleben. Vor einer Exegese, wie sie die Psychoanalyse später möglich machte, hätte er furchtbare Angst gehabt.

Dieser Text also bliebe am liebsten die Ausnahme zu allen gewesenen Texten, einer, in dem sich die Unbegreiflichkeit der Phantasie selbst abbildet. Wäre es anders, gäbe es ein Passwort oder einen Schlüssel, er verlöre jene Einzigartigkeit, um die ihn Surrealisten und Dadaisten gleichermaßen beneidet haben: als Manifestation einer unbändigen, entfesselten Wirklichkeit im Medium der Phantasie.

Wenn man etwas begreifen muss an diesem Buch, dann ist



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